Nr. 148 / 18. Mai 2011 SC
Ist Tinnitus eine Globalisierungserkrankung? Diese These belegt der Bremer Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker Michael Tillmann in seiner jüngst vorgelegten Dissertation mit dem Titel „Tinnitus. Gesellschaftliche Dimension, Psychodynamik, Behandlungskonzepte“. Die Doktorarbeit im Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen wurde mit magna cum laude bewertet. Sie ist die wohl weltweit erste psychoanalytische Studie zum Thema Tinnitus aurium. Dr. Tillmann verknüpft in seiner Arbeit psychoanalytische Theorie und klinisch-empirische Erfahrungen mit gesellschafts- und kulturtheoretischen Erkenntnissen. „Denn zum individuellen Leid kommt eine globale Dimension, die in einer erfolgreichen Behandlung ebenso mitgedacht werden muss“, so Tillmann.
Auffällig ist, dass Tinnitus in den vergangenen Jahrzehnten epidemische Ausmaße angenommen hat. Knapp drei Millionen litten 1998 allein in Deutschland unter dem Ohrensausen, und die Zuwachsrate ist enorm. Die Deutsche Tinnitus-Liga spricht sogar von einer Volkskrankheit. In anderen Industrie- und Schwellenländern sieht die Situation ähnlich aus. Michael Tillmann bringt die individuelle Bedeutung des Symptoms und ein durch Globalisierungsprozesse verursachtes gesellschaftliches Ohnmachtsgefühl in einen neuen Zusammenhang.
Tinnitus: Eine körperliche Reaktion auf Modernitätssprünge
Tinnitus ist demzufolge ein körperlicher Widerstand gegen Entsubjektivierung und Entsinnlichung in Zeiten der Globalisierung. Denn Modernitätssprünge verursachen Ängste in den Menschen, sie können die derzeit stattfindenden Veränderungen nicht sinnlich begreifen und erleben sie laut Tillmann als Verlust von Geborgenheit. Sinnlich-körperliche Erfahrungen verschwinden durch den ständigen Wandel lebensweltlicher Prozesse. Körperliches, das verdrängt wird, kehrt jedoch bekanntlich in verzerrter Weise wieder zurück. Die Folge ist laut Tillmann unter anderem eine psychosomatische Reaktion des Hörsinns. Tinnitus fungiert hier sozusagen als Pfropf, der das Ohr verschließt, wenn jemand „nichts mehr hören will“. So gesehen, ist das Ohrensausen ein hysterisches Konversionssymptom, das als körperliche Funktionsstörung des Wahrnehmungssystems in symbolischer Weise einen unbewussten Konflikt ausdrückt.
Tillmann beobachtet als Psychoanalytiker auch das individuelle Leiden der Tinnitus-Betroffenen, dem die Medizin im Grunde hilflos gegenüber steht. Reflexhaft werden diverse pharmakologische und apparative Therapien angeboten, statt zuzuhören und verstehen zu wollen. Die Heilungsversuche der Gesundheitsindustrie beschränken sich auf Linderung der Symptome und Gewöhnung. Tillmann widerspricht dem: Nicht weghören, sondern hinhören sei der bessere Weg, denn für ihn steckt hinter dem Ohrensausen eine Botschaft, die entschlüsselt werden muss. Ein kreativer psychoanalytischer Prozess, auf den sich Patient und Analytiker gleichermaßen einlassen müssen, kann die leidvolle Körpersprache übersetzen und so helfen, das verlorene innere Objekt wiederzufinden. Auf diese Weise, so Doktorvater Rolf Vogt in seinem Gutachten, „wird das Symptom aus der bizarren Entfremdung des unerklärlich Somatischen rückübersetzt in die verstehbare unbewusste Bedeutungsvielfalt seiner psychosomatischen Ursprünge und Ausdrucksformen".
Anregungen, um nach dem unbewussten Sinn des Leidens zu suchen
Wie dieser Prozess aussehen kann, schildert Tillmann in seiner Dissertation ausführlich anhand eines klinischen Falles. Hier entschlüsselt er exemplarisch, was sich psychodynamisch und gesellschaftlich hinter dem Symptom verbergen kann. Er bietet damit kein Manual, wie es in der Medizin üblich ist, sondern Anregungen, wie gemeinsam nach dem oft unbewussten Sinn des Leidens gesucht werden kann, um dann in einem weiteren Schritt eine Brücke zum eingekapselten emotionalen Erleben im Unbewussten herzustellen. Dies kann der Grundstein für eine Betrachtung sein, an die alle tiefenpsychologischen, aber auch andere an einer sprechenden Therapie interessierten Richtungen anknüpfen können.
Der Psychologie-Professor Rolf Vogt aus Heidelberg, der bereits vor seiner Emeritierung an der Universität Bremen den Promovenden betreut hat, lobt die Arbeit als „Pionierleistung“. In dieser einmaligen Zusammenschau von theoretischen psychoanalytischen und klinisch-empirischen Untersuchungen sowie gesellschaftskritischen Beobachtungen eröffnet Dr. phil. Michael Tillmann die Perspektive einer erfolgversprechenden Behandlung des epidemischen Phänomens Tinnitus.
Veröffentlichungen:
Tinnitus. Gesellschaftliche Dimension, Psychodynamik, Behandlungskonzepte. Psychosozial-Verlag Gießen, 2010 (Dissertation)
Weitere Informationen:
Universität Bremen
Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften
Dr. Michael Tillmann
Tel. 0421-703802
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