„Mit Bremern und Bremerinnen forschen, nicht über sie“
Inwiefern hat die koloniale Geschichte Bremens heute noch Einfluss auf die Identität der Stadt? Stadtgeographin Professorin Julia Lossau und Kulturwissenschaftlerin Professorin Michi Knecht erforschen diese Frage gemeinsam mit ihren Teams, Studierenden sowie lokalen Akteurinnen und Akteuren außerhalb der Universität. Für sie ist Transfer ein gemeinschaftlicher Prozess, in dem das Zusammenwirken unterschiedlicher Perspektiven einen Mehrwert für alle produziert.
„Ich suche den Dialog“
Den Dialog zwischen der Stadt Bremen und der Universität stärken: Das war ein Ziel des Projekts „Global Cotton – eine Uni – ein Buch – eine Stadt“ im Jahr 2018 unter der Leitung von Michi Knecht. Am Beispiel des Rohstoffs „Baumwolle“ wurde zum Nachdenken und zur Diskussion angeregt – etwa über die Verflechtung von lokaler und globaler Geschichte sowie von Kolonialismus und gegenwärtigen sozialen, politischen und ökonomischen Ordnungen. „Für uns war es spannend, die verschiedensten Partnerinnen und Partner aus Stadt und Universität zusammenzubringen“, sagt Knecht. So zum Beispiel das Theater der Versammlung und die Baumwollbörse in Bremen oder das Faserinstitut der Universität mit dem Bereich Ethnologie. „Wir haben Brücken geschlagen, die vorher nicht da waren“, so die Wissenschaftlerin. „Global Cotton verband in Lehr-, Forschungs- und Diskursformaten Universität und Stadt.“ Julia Lossau macht ebenfalls immer wieder die Erfahrung, dass sich Wissenschaft und Stadt über spannende Formate und Kooperationen noch enger vernetzen lassen. „Als Professorin für Stadtgeographie suche ich den Dialog mit ganz unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren in der Stadt, um herauszufinden, wie sie ihre Stadt gestalten wollen und was ihnen dabei wichtig ist“, erklärt sie
Deswegen beteiligt sie sich gerne an Veranstaltungen wie den „Wohntagen Bremen“ des Senators für Umwelt, Bau und Verkehr – einem partizipativen Format, in dem Bremerinnen und Bremer selbst zu Wort kommen. Lossau möchte auch ihr Engagement im Vorstand des Bremer Zentrums für Baukultur verstärken: „Die Reihe ‚Bremer Stadtdialog‘ leistet wichtige Transferarbeit zu aktuellen Themen der Bremer Stadtentwicklung. Da hat die Stadtgeographie viel beizutragen, und wir können selbst dazulernen.“
„Die Universität Bremen hat keinen Innenstadtcampus. Daher müssen umso mehr Formate organisiert werden, die Stadt und Uni zusammenbringen“, erklärt Michi Knecht ihr Transferengagement. „Das heißt einerseits, selbst in die Stadt zu gehen, und andererseits, die Stadt an die Uni zu holen.“ Dies habe mit „Global Cotton“ wunderbar funktioniert. „Das Projekt zeigt, was die Bremer Kulturwissenschaften für die Stadt leisten können: Wir stellen für Bremen nachhaltig Wissen zur Verfügung, das den Bürgerinnen und Bürgern hilft, Entwicklungen der Stadt in einem breiten Kontext zu verstehen.“
„Wir müssen unsere Forschung in die Stadtteile bringen“
In Bezug auf die Frage, wie Forschung in die Stadt zu bringen ist, betont Julia Lossau: „Wir sollten uns bewusst sein, dass das Format zentraler Dialogreihen zu kurz gegriffen ist. Wir müssen uns vielmehr mit den Menschen in den Stadtteilen kurzschließen.“ Städte versteht sie als Knotenpunkte in einem Netz aus Verflechtungen. Aktuell erforscht sie gemeinsam mit einem Zeitzeugen die postkolonialen Beziehungen zwischen Bremen und Singapur. Bei einem Besuch des Übersee-Museums Bremen ist Lossau auf den Bericht eines Bremer Kaufmanns gestoßen, der in China aufgewachsen ist und heute wieder in Bremen lebt. „Solche Erzählungen sagen sehr viel aus über die Bedeutungen, die Menschen ihren Wohnorten zuschreiben.“
Was das Transferverständnis der beiden Wissenschaftlerinnen eint, ist das unbedingte Interesse am eigenen Dazulernen durch die Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern. „In unserer polarisierten Gesellschaft geht es darum, neu darüber nachzudenken, was für ein Wissen vermeintliche Laien haben, wie wir dieses ernst nehmen und mit wissenschaftlichem Wissen in Verbindung bringen können. Ich spreche deshalb von Kollaboration und Koproduktion“, sagt Knecht. Lossau verfolgt denselben Ansatz: „Erfolgreicher Transfer ist reziprok, man vermittelt sich also gegenseitig etwas. Wenn viele verschiedene Perspektiven beteiligt sind, können wir bessere Aussagen über unsere Welt treffen. Deswegen hat für mich Transfer auch viel mit Teilhabe zu tun. Die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Gesellschaft sollte auf Augenhöhe stattfinden.“