Nr. 185 / 06. Juni 2013 SC
Mit Begriffen wie „Ernährerlohn“ oder „Familienlohn“ verbindet sich die Vorstellung, dass ein Einkommen ausreicht, um Existenzsicherung und Wohlstand einer Familie zu gewährleisten. Dies trifft allerdings nicht mehr zu. In einer Studie belegen Sozialwissenschaftlerinnen der Universität Bremen, dass für einen mittleren Lebensstandard heute zwei Familieneinkommen erforderlich sind. Der männliche Alleinernährer der Familie ist eine „aussterbende“ Spezies.
In den durch Wirtschaftswachstum und Sozialstaatsausbau gekennzeichneten sechziger und siebziger Jahren der alten Bundesrepublik reichte der Verdienst des Mannes tatsächlich aus, um der Familie einen guten Lebensstandard zu sichern. Das galt nicht nur für die Einkommen von Beamten sondern auch für die Löhne von männlichen Facharbeitern in den industriellen Kernsektoren zu. Im wiedervereinigten Deutschland hat das damit verbundene, traditionelle Leitbild vom männlichen Familienernährer und der Hausfrauenehe jedoch an Bedeutung verloren: durch steigende Frauenerwerbstätigkeit und gewandelte Familienformen ebenso wie durch stagnierende Reallöhne und wachsende Einkommensungleichheiten. Neue Leitbilder und veränderte Regelungen in der Arbeitsmarkt- und Familienpolitik, die auf die Erwerbstätigkeit auch von Frauen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie setzen, scheinen diesem Wandel Rechnung zu tragen. Doch was bedeutet dies mit Blick auf Erwerbseinkommen und Wohlstandssicherung? Können auch die meist in Dienstleistungsbranchen beschäftigten Frauen einen Ernährerlohn erzielen?
Vor diesem Hintergrund hat ein Forscherteam der Universität Bremen, dem neben den Leiterinnen Dr. Irene Dingeldey und Professorin Karin Gottschall auch Ina Berninger, Andrea Schäfer und Tim Schröder angehörten, untersucht, inwieweit ein Lohn, der eine Familie ernährt, in West- wie Ostdeutschland noch Bestand hat. Mit Blick auf so genannte Normalarbeitnehmer, also berufsfachlich qualifizierte, Vollzeit beschäftigte Frauen und Männer in typischen Industrie- und Dienstleistungsbranchen wurde analysiert, inwieweit diese Gruppen als Teil der gesellschaftlichen Mitte noch ein Einkommen erzielen, das auch im Familienkontext einen Lebensstandard jenseits der Armutsgrenze garantiert.
Traditioneller Ernährerlohn reicht nicht mehr
Die Ergebnisse des von der Hans-Böckler Stiftung finanzierten Projektes, veröffentlicht in einem Schwerpunktheft der WSI-Mitteilungen (3/2013), zeigen, dass der traditionelle Ernährerlohn nur noch von knapp einem Viertel der männlichen und weiblichen Normalarbeitnehmer erreicht wird. Als Referenzpunkt wird das Lohnniveau berufsfachlich qualifizierter Vollzeiterwerbstätiger in der Metallindustrie genommen. Dieses Lohnniveau erreichen insbesondere westdeutsche Männer, westdeutsche Frauen und ostdeutsche (männliche und weibliche) Arbeitnehmer hingegen deutlich seltener. Analysen zur Tariflohnentwicklung nach Branchen offenbaren, dass sich die Unterschiede im Zeitverlauf durch relativ hohe Steigerungen bei den Einstiegsvergütungen in den Metallberufen und bei Bankkaufleuten und eher geringen Steigerungen bei Erziehungsberufen und in der Altenpflege noch verstärkt haben.
Hohes Armutsrisiko bei Frauen in Ost und West
Betrachtet man nicht nur die Lohneinkommen, sondern die Einkommen auf Haushaltsebene so wird deutlich, dass insbesondere weibliche Normalarbeitnehmer in Westdeutschland sowie ostdeutsche männliche und weibliche Normalarbeitnehmer zusätzlich auf staatliche Transferleistungen und auf Partnereinkommen angewiesen sind, um Armut im Haushaltskontext zu vermeiden. Einen mittleren Lebensstandard für eine mindestens dreiköpfige Familie kann schließlich nur noch ein Viertel der vergleichsweise gut verdienenden männlichen Normalarbeitnehmer in Westdeutschland allein mit einem Einkommen erreichen. Für weibliche Normalarbeitnehmer im Westen, aber auch für ostdeutsche Normalarbeitnehmer liegt der entsprechende Anteil z. T. unter 10 %. Faktisch ist damit die Zweiverdienerfamilie zur Voraussetzung für Wohlstandssicherung geworden. Umgekehrt sind insbesondere alleinerziehende Frauen selbst mit qualifizierter Vollzeiterwerbstätigkeit zu mehr als zwei Dritteln nicht in der Lage, den Bedarf ihres Haushalts allein durch ihr Erwerbseinkommen zu decken. Dies, so das Forscherteam, verweist nicht nur auf blinde Flecken im neuen Leitbild des individuellen Erwerbsbürgers, sondern auch auf konkreten Handlungsbedarf für die Tarifparteien und sozialpolitischen Akteure.
Weitere Informationen:
Universität Bremen
Institut Arbeit und Wirtschaft
PDDr. Irene Dingeldey
E-Mail: dingeldeyprotect me ?!iaw.uni-bremenprotect me ?!.de
Zentrum für Sozialpolitik (ZeS)Kontakt
Prof.Dr. Karin Gottschall
E-Mail: k.gottschallprotect me ?!zes.uni-bremenprotect me ?!.de