Nr. 182 / 20. September 2017 JS
Die Kosten für Medikamente belasten die gesetzlichen Krankenkassen stark. Umso wichtiger ist es, die tatsächliche Wirksamkeit der Arzneimittel zu bewerten. Der Innovationsreport 2017 der Universität Bremen, der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und der Techniker Krankenkasse zeigt, dass ein großer Anteil der aktuell untersuchten Medikamente im Hinblick auf ihren zusätzlichen Nutzen oder ihres Risikos im Vergleich zu anderen Arzneimitteln nicht überzeugen kann. „Bei den neu zugelassenen Arzneimitteln des Jahres 2014 kommt es im Innovationsreport 2017 in der „Nachbewertung“ nach drei Jahren zu eher durchschnittlichen Gesamtbewertungen: Kein einziges der 32 beurteilten Arzneimittel bekommt die Gesamtbestnote „Grüne Ampel“, erklärt Gesundheitswissenschaftler Professor Gerd Glaeske.
Im Innovationsreport 2017 werden verschiedene Aspekte der neuen Arzneimittel nach ihrer Bewährungsprobe im Alltag analysiert und Fragen beantwortet wie: Ist das Arzneimittel das einzige zur Behandlung der betreffenden Krankheit? Hat es mehr Nutzen oder weniger Risiken für die Patienten als andere Arzneimittel, die zur Behandlung der jeweiligen Krankheit angeboten werden, und wie teuer ist es? Gibt es weitere Hinweise in der Literatur, die seit der Zulassung des jeweiligen Mittels dessen Bewertung verändern können? Diese Fragen werden mithilfe eines Ampelsystems beantwortet. Dabei steht eine „rote“ Ampel für eine kritische Bewertung, eine „gelbe“ für eine eher offene Klassifikation und eine „grüne“ für eine positive Gesamteinschätzung.
Nahezu die Hälfte der untersuchten Arzneimittel ohne Zusatznutzen
Der untersuchte Zusatznutzen wurde 15 von 32 Mal mit „rot“ bewertet. Das bedeutet, das Arzneimittel hat sich seit seiner Einführung nicht als wirksamer oder risikoärmer als bereits bestehende Therapien gezeigt. Unübersehbares Indiz eines nach der Zulassung aufgetretenen Risikos sind „Rote-Hand-Briefe“, mit denen Ärztinnen, Ärzte und Apotheken auf bisher nicht bekannte Risiken hingewiesen oder mit denen Einschränkungen für die Behandlung bekannt gemacht werden. Für sechs der im Innovationsreport 2017 untersuchten neuen Wirkstoffe wurden Rote-Hand-Briefe verschickt, für zwei sogar zwei Mal.
Die meisten Wirkstoffe erhielten im Innovationsreport 2017 in Bezug auf den Zusatznutzen eine gelbe Ampel. Eine grüne Ampel für eine Innovation ohne Nachteile konnte keinem der 2014 neu auf den Markt gebrachten Arzneimittel gegeben werden, auch wenn einige Arzneimittel zum Zeitpunkt ihrer Zulassung beispielsweise für Krebserkrankungen oder Hepatitis C große Hoffnungen ausgelöst hatten. „Es ist bei einigen Patientengruppen durchaus zu erwarten, dass gerade die Mittel zur Behandlung einer Hepatitis-C-Infektion das Potenzial für eine Heilung dieser Krankheit haben“, erklärt Glaeske. „Dies werden aber erst die Langzeiterfahrungen zeigen.“
Hohe Kosten durch neue Arzneimittel
Die Kosten wurden ebenfalls im Vergleich bewertet: Neun der untersuchten Arzneimittel waren teurer als ihre Vergleichspräparate und bekamen eine rote Kostenampel. Bei zehn Wirkstoffen waren die Preise nicht zu bewerten, da sie zu den Arzneimitteln für die Behandlung seltener Erkrankungen – sogenannte „Orphan-Drugs“ – gehören. Für diese Orphan-Arzneimittel gelten Sonderregeln, die unter anderem finanzielle Einsparungen bei der Zulassung bedeuten und denen von vornherein ein Zusatznutzen zugesprochen wird. Fast 40 Prozent der im Innovationsreport 2017 untersuchten Wirkstoffe sind Orphan-Arzneimittel, deren Preise astronomische Höhen erreichen können. So gilt beispielsweise Alipogentiparvovec, ein Mittel zur Behandlung einer seltenen familiär bedingten Fettstoffwechselstörung, mit Jahrestherapiekosten von 1,2 Millionen Euro pro Patient als teuerster Wirkstoff der Welt. „Durch die hohen Kosten für die neu zugelassenen Arzneimittel wird ein großer Umsatz für die pharmazeutischen Unternehmer erzielt, der gleichzeitig eine hohe Belastung für das deutsche Gesundheitssystem bedeutet“, so Glaeske.
Was bringen neue Arzneimittel, die die alten ersetzen sollen?
Wenn neue Arzneimittel auf den Markt kommen, die in Konkurrenz zu bereits bewährten, guten Therapien treten, wird im Innovationsreport 2017 für die Kategorie „Verfügbare Therapien“ eine rote Ampel vergeben. Gibt es bisher keine Arzneimitteltherapie für eine Krankheit, verdient ein neuer passender Wirkstoff eine grüne Ampel. Für den Vergleich mit den verfügbaren Therapien erhielten im vorliegenden Report fünf Orphan-Arzneimittel diese Note. Die betreffenden Mittel konnten allerdings keinen Zusatznutzen nachweisen, sodass die Gesamtbewertung mit der Ampelfarbe „gelb“ erfolgte.
Großes Einsparpotenzial in den gesetzlichen Krankenkassen durch „Biosimilars“
In einem Sonderkapitel des Innovationsreportes 2017 werden „Biosimilars“ behandelt, die als Nachfolgeprodukte der Biologika auf dem Markt sind. Biologika und Biosimilars sind Produkte, die nicht wie gängige Arzneimittel chemisch synthetisiert werden, sondern die künstlich hergestellte Eiweiße enthalten, die den menschlichen Eiweißsubstanzen entsprechen. Sie werden vor allem bei Indikationen wie Rheumatoide Arthritis, Psoriasis oder onkologischen Erkrankungen ohne klinische Nachteile für die Patienten eingesetzt. Da Biosimilars etwa 25 bis 30 Prozent kostengünstiger als die vorher patentgeschützten Biologika angeboten werden, lässt sich wie mit den Generika im herkömmlichen Arzneimittelsegment ein hohes Einsparpotenzial erreichen. Es wird derzeit auf bis zu 500 Millionen Euro allein in der Krebstherapie geschätzt. „Das Angebot wird sich weiter entwickeln, je mehr Originalpräparate ihren Patentschutz verlieren“, erläutert Glaeske.
Spätbewertung nach der Frühbewertung notwendig
Ein weiteres Thema des Innovationsreportes 2017 ist der wachsende Anteil beschleunigter Zulassungen im Arzneimittelmarkt. Damit soll erreicht werden, dass neue Arzneimittel schneller für die Patientenversorgung zur Verfügung stehen. „Der Nachteil solcher beschleunigter Zulassungen liegt jedoch darin, dass deutlich weniger Informationen zur Wirksamkeit und zu Nebenwirkungen vorliegen als bei den üblichen Zulassungsverfahren“, so Glaeske. Es muss daher dafür Sorge getragen werden, dass neue Arzneimittel, die auf der Basis einer beschleunigten Zulassung auf den Markt gebracht werden, nach der Zulassung in einem studienähnlichen Versorgungsumfeld eingesetzt werden. So können weitere Daten zum Nutzen und zu den Risiken der neuen Mittel erfasst und ausgewertet werden. „Es kann nicht sein, dass die Interessen der pharmazeutischen Unternehmer an einem möglichst schnellen Marktzugang und hohen Profiten im Rahmen einer möglichst lange ausgenutzten Patentlaufzeit Vorrang haben vor Therapiesicherheit und Patientenschutz“, sagt Glaeske.
„Die Ergebnisse und Bewertungen des Innovationsreports 2017 zeigen deutlich, dass auch bei einem üblichen Zulassungsverfahren Fragen zu Risiken und Nutzen in der Patientenversorgung nicht mit ausreichender Sicherheit im frühen Stadium der Bewertung nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz beantwortet werden können“, so Glaeske. „Deshalb ist es umso wichtiger, zu einem späteren Zeitpunkt eine erneute Nutzen- und Risikoprüfung durchzuführen – der „Frühbewertung“ muss nach der Bewährungsprobe der Arzneimittel in den ersten drei Jahren eine „Spätbewertung“ auf der Basis von Studien der Versorgungsforschung folgen. Der Innovationsreport 2017 bietet hierfür eine mögliche Methodik an, die sich zugunsten der Patienten begleitend zu den bisherigen Regelungen anwenden ließe.“
Über den Innovationsreport
Seit fünf Jahren erscheint in Herausgeberschaft von Professor Gerd Glaeske am SOCIUM - Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen und Professor Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, der Innovationsreport mit Unterstützung der Techniker Krankenkasse. Dieser Forschungsbericht bewertet im Rückblick Arzneimittel, die seit drei Jahren in Deutschland zugelassen sind und von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erstattet werden. Der Innovationreport bietet somit aktuelle Informationen für Arzneimittel an, die bereits auf dem Markt verfügbar sind, und kann somit Erfahrungen aus den ersten Jahren der Anwendung widergeben, die für Ärzte und Patienten mehr Sicherheit in der Behandlung bedeuten.
Weitere Informationen:
Universität Bremen
SOCIUM - Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Prof.Dr. Gerd Glaeske
Tel.: 0421/218-58559
E-Mail: gglaeskeprotect me ?!uni-bremenprotect me ?!.de