Etwas aufgeregt ist er schon, der Leiter der Arbeitsgruppe „Fernerkundung der Polarregionen“ im Institut für Umweltphysik (IUP) der Universität Bremen. Schließlich geht es nach monatelanger Vorbereitung jetzt endlich los: Dr. Gunnar Spreen gehört zu der ersten Gruppe von insgesamt 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Besatzungsmitgliedern, die bei MOSAiC – der bislang bedeutendsten Arktisexpedition aller Zeiten – dabei sind.
Drift in Richtung Europa
„Dass sich ein Forschungsschiff einfrieren lässt, um dann über tausende Kilometer im Eis über den Nordpol hinweg Richtung Europa zu driften, hat es bislang nie gegeben“, erläutert der 43-Jährige die außergewöhnliche Mission. Für die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heißt das, einerseits über Wochen in Dunkelheit und Kälte auszuharren – andererseits aber auch, genug Zeit für Experimente und Forschungen zu haben, die man erstmals unter diesen Bedingungen machen kann. „Denn bisher hat noch niemand die Gegebenheiten vor Ort über einen langen Zeitraum in der arktischen Polarnacht erforscht. Alle bisherigen – wesentlich kürzeren – Expeditionen fanden überwiegend in der hellen Jahreszeit statt“, sagt Gunnar Spreen.
Das Expeditionsprojekt hat die Abkürzung MOSAiC für „Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate“, auf Deutsch „Multidisziplinäres driftendes Observatorium zur Erforschung des arktischen Klimas“. Driften wird das deutsche Forschungsschiff Polarstern, das sich ab Oktober 2019 im Nordpolarmeer für ein Jahr einfrieren lässt. Die Polarstern überwintert dann in einer Region, die in der Polarnacht sonst weitgehend unerreichbar ist. Auf einer Eisscholle schlagen die 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die Besatzung – nie gleichzeitig, sondern in unterschiedlicher Zusammensetzung und insgesamt sechs Abschnitten – ihr Forschungscamp auf. MOSAiC ist ein internationales Forschungsprojekt der Superlative. Erstmals werden Daten in einem Zeitraum gemessen, in dem dies bisher nicht möglich war.
Bessere und sicherere Resultate
Gunnar Spreen gehört zur ersten Gruppe, die ihre Arbeit aufnimmt. Er wird vorrangig mit dem Mikrowellenradiometer arbeiten. „Es gibt praktisch keine neueren Daten von jungem Eis, vom Prozess der Meereisbildung über den arktischen Winter bis zum Auftauen“, so der Umweltphysiker. „Wir ermitteln jetzt ein Jahr lang vor Ort die Eistypen, die Eisdicke, die Schneeeigenschaften und vieles mehr.“ Diese Daten gleichen die Forscher dann mit ihren Messungen ab, die sie seit vielen Jahren von Satelliten aus 800 km Höhe vornehmen. Der Vergleich der Daten aus dem All mit den detaillierten Mikrowellenmessungen vor Ort soll dazu führen, dass für künftige Missionen wesentlich bessere Methoden entwickelt werden können. Die sind schon geplant und werden dann unter der der Federführung der EU von der europäischen Weltraumorganisation ESA durchgeführt. Spreen: „Wir können jetzt ein Jahr lang das unter die Lupe nehmen, was wir sonst nur aus großer Entfernung sehen. Das führt letztlich zu Resultaten, die besser und sicherer sind.“
Nach der Abfahrt in Tromsø am 20. September wird es einige Zeit dauern, bis die Polarregion erreicht ist. „Beim Aufbauen unserer Geräte müssen wir uns beeilen, weil wir noch einige Tage lang ein paar Stunden Helligkeit nutzen können. Ab dem 15. Oktober herrscht dann völlige Dunkelheit“, so der 43-Jährige. Abgelöst wird er dann an seinem Geburtstag, dem 15. Dezember. Dann bringt der russische Forschungseisbrecher Kapitan Dranitsyn die nächste Forschergruppe ins Eis und holt die „Pilotgruppe“ ab.
Gunnar Spreen übergibt dann seine Forschungstätigkeit vor Ort an Markus Huntemann vom Alfred-Wegener-Institut – Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Huntemann gehört zu der gemeinsam von Universität Bremen und AWI eingerichteten „Kooperativen Nachwuchsgruppe für Meereis-Fernerkundung“, die von Gunnar Spreen geleitet wird.
Weihnachten noch auf See
Bis der Bremer Umweltphysiker nach der „Abholung“ durch die Kapitan Dranitsyn wieder festen Boden unter den Füßen hat, vergeht aber noch einige Zeit auf See. Der Eisbrecher braucht gut drei Wochen bis Tromsø. Erst im neuen Jahr wird er eintreffen „Geplant ist der 2. Januar 2020“, so Gunnar Spreen, „aber wie lange der Eisbrecher wirklich braucht, ist natürlich ungewiss. Bei einer solchen Expedition gibt es natürlich zahlreiche Unwägbarkeiten.“ Sicher ist aber, dass der Wissenschaftler und seine Begleiterinnen und Begleiter Weihnachten und Silvester auf See feiern werden.
Eine weitere Forscherin der Universität Bremen wird im April 2020 in der vierten Forschungsgruppe ins Eis gehen: Die Physikerin Natalia Sukhikh, die zur Arbeitsgruppe Ozeanographie von IUP-Professorin Monika Rhein gehört, wird dann Wasserproben aus den verschiedenen Schichten nehmen, die unter dem Eis liegen. An der Universität Bremen wird später der Gasgehalt dieser Schichten bestimmt, um den Austausch zwischen wärmeren und kälteren Strömungen nachvollziehen zu können.
Über die MOSAiC-Expedition
Die MOSAiC-Expedition unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) ist verbunden mit noch nie dagewesenen Herausforderungen. Eine internationale Flotte von vier Eisbrechern, Helikoptern und Flugzeugen versorgt das Team auf dieser extremen Route. Insgesamt 600 internationale Teilnehmerinnen und Teilnehmer, davon die Hälfte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, werden die Mission begleiten.
Markus Rex, Expeditionsleiter MOSAiC, Alfred-Wegener-Institut, sagt: „Diese Expedition ist bahnbrechend. Niemals zuvor gab es eine derart komplexe Arktisexpedition. Erstmals werden wir die Klimaprozesse der Zentralarktis im Winter vermessen können. Erstmals wird es uns gelingen, diese Region zu verstehen und in Klimamodellen korrekt abzubilden. Die Arktis ist das Epizentrum der globalen Erwärmung mit dramatischen Veränderungen schon heute. Und sie ist die Wetterküche für unser Wetter in Europa. Extremwetterlagen wie winterliche Ausbrüche arktischer Kaltluft bis zu uns oder extrem heiße Phasen im Sommer hängen mit den Veränderungen der Arktis zusammen. Gleichzeitig sind die Unsicherheiten unserer Klimamodelle nirgends so groß wie in der Arktis. Es gibt keine verlässlichen Prognosen, wie sich das Klima der Arktis in der Zukunft weiter entwickeln wird und was das für das Wetter bei uns bedeutet. Es ist unsere Mission, das zu ändern.“
Das Budget der Expedition beträgt rund 140 Millionen Euro. Im Laufe des Jahres werden ca. 300 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus 17 Ländern an Bord sein. Sie kommen aus Belgien, China, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Japan, Kanada, den Niederlanden, Norwegen, Polen, Russland, Schweden, der Schweiz, Spanien und den USA. Dabei werden sie landseitig auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Österreich und Südkorea unterstützt. Die Fragen, denen die Forscherinnen und Forscher während der Expedition nachgehen wollen, sind eng miteinander verknüpft. Zusammen wollen sie zum ersten Mal das gesamte Klimasystem in der Zentralarktis erforschen. Sie erheben Daten in den fünf Teilbereichen Atmosphäre, Meereis, Ozean, Ökosystem und Biogeochemie, um die Wechselwirkungen zu verstehen, die das arktische Klima und das Leben im Nordpolarmeer prägen.
Neuigkeiten direkt aus der Arktis gibt es über die MOSAiC-Kanäle auf Twitter (@MOSAiCArctic) und Instagram (@mosaic_expedition) über die Hashtags #MOSAiCexpedition, #Arctic und #icedrift. Weitere Informationen zur Expedition auf: www.mosaic-expedition.org. In der MOSAiC-Web-App kann die Driftroute der Polarstern zudem live mitverfolgt werden: follow.mosaic-expedition.org .
Weitere Informationen:
www.mosaic-expedition.org
www.seaice.uni-bremen.de
www.uni-bremen.de
Fragen beantwortet:
bis 20. September mobil erreichbar:
Dr. Gunnar Spreen
Institut für Umweltphysik (IUP)
Universität Bremen
Tel.: +49 163 8033583
Ab 21. September:
Prof. Dr. Justus Notholt
Institut für Umweltphysik (IUP)
Universität Bremen
Tel.: +49 421 218-62190
E-Mail: jnotholtprotect me ?!iup.physik.uni-bremenprotect me ?!.de