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Bremer Sozialwissenschaftlerinnen warnen vor Angriff auf Künstlersozialversicherung

Studien beweisen: Erfolgreiches Modell der sozialen Absicherung wäre auch für Kleinstselbständige und Freiberufler anderer Branchen interessant

Vor der am Freitag dieser Woche (19. September) anstehenden Abstimmung im Bundesrat über die Zukunft der Künstlersozialversicherung (Künstlersozialkasse / KSK) warnen die beiden Sozialwissenschaftlerinnen Professor Karin Gottschall und Dr. Sigrid Betzelt vom Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen davor, das seit 25 Jahren erfolgreiche Modell der sozialen Absicherung selbständiger Kulturschaffender abzuschaffen. „Der Erfolg der Künstlersozialkasse ist beispiellos. Sie hat auch einen Modellcharakter über die Gruppe der Kulturschaffenden hinaus – denn es geht auch um die Zukunftsperspektiven selbständiger Erwerbsarbeit. Diese werden – ähnlich wie künstlerische Arbeit – mit der Flexibilisierung der Dienstleistungsmärkte immer dynamischer und riskanter“, so Karin Gottschall. Sie hat in den vergangenen Jahren im ZeS zusammen mit Sigrid Betzelt und weiteren Mitarbeitern verschiedene Forschungen zur sozialen Lage von Alleinselbstständigen und Kulturberufstätigen in Deutschland durchgeführt.

Worum es geht: Freischaffende Künstler, Journalisten und Publizisten sind selbständig. Gleichwohl unterliegen sie der Versicherungspflicht in der Künstlersozialversicherung und bezahlen – ähnlich wie Arbeitnehmer – ihre Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung. Der Arbeitgeberanteil setzt sich aus einem Bundeszuschuss und der umstrittenen Künstlersozialabgabe zusammen, die Auftraggeber oder Verwerter von Werken freischaffender Künstler, Journalisten und Publizisten auf deren Werke entrichten müssen.

Dieses Modell der sozialen Absicherung selbständiger Kulturschaffender wurde 1983 als Reaktion auf die besondere Risikolage einer wirtschaftlich schwachen Gruppe mit breitem Konsens der Kulturwirtschaft eingeführt. Eine wesentliche Begründung war auch die wichtige Rolle der Kultur als öffentlichem Gut. Seitdem ist die KSK sehr erfolgreich – die Zahl der Versicherten ist um 230% gestiegen, was wesentlich auch auf die Ausgliederung z.B. von Lektoren- oder Designtätigkeiten aus den Unternehmen zurückzuführen ist. Diese sparen damit die Sozialabgaben, die viermal höher sind als die Künstlersozialabgabe.

Sicherungslücke birgt Gefahr der drohenden Altersarmut bei Selbständigen

„Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Künstlersozialkasse auch für andere gesellschaftliche Gruppen beispielhaft ist. Unter den Selbständigen in Deutschland, die immerhin 10% aller Erwerbstätigen stellen, zählt inzwischen die Hälfte zur wachsenden Gruppe der Kleinstselbständigen und Freiberufler ohne Mitarbeiter. Ihre Möglichkeiten sich gegen Lebensrisiken wie Krankheit, Auftragsmangel oder Alter zumindest minimal abzusichern sind – im Gegensatz zu ‚traditionellen’ Berufen wie Arzt oder Rechtsanwalt – aufgrund der eher niedrigen Einkommen deutlich eingeschränkt“, so Sigrid Betzelt. Umgekehrt sei ihnen aufgrund des Selbständigkeitsstatus in der Regel der Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen der abhängig beschäftigten Normalarbeitnehmer verwehrt. Diese Sicherungslücke führt zu drohender Altersarmut bei Selbständigen. Betzelt: „Empirische Studien zeigen, dass gerade Kulturberufler häufig nur dann ‚über die Runden kommen’, wenn sie in einem Zwei-Verdiener-Haushalten leben.“

Andere Länder haben die Notwendigkeit einer stärker universellen sozialen Sicherung längst erkannt. Die meisten europäischen Länder beziehen Selbständige in ihre Systeme sozialer Sicherung ein oder tragen, wie etwa in Frankreich, durch Sonderregelungen gerade dem Beitrag der ‚Kreativen’ zum Gemeinwohl ebenso wie zur Wirtschaftsförderung Rechnung.

Abschaffung der Künstlersozialkasse bedeutet Folgekosten für Länder und Kommunen

Vor diesem Hintergrund ist nach Ansicht der Sozialwissenschaftlerinnen der Vorstoß eines Teils des Mittelstandes gegen die KSK eher kurzsichtig: „Unternehmen in Deutschland profitieren von den Leistungen der Kulturschaffenden nicht nur direkt, sondern auch indirekt durch ein kulturell reiches, öffentlich finanziertes Umfeld, das in Europa fast einmalig ist“, so Karin Gottschall. Auch die Bundesländer könnten sich mit der Unterstützung dieses wirtschaftslobbyistischen Vorstoßes einen Bärendienst erweisen: „Mit der Abschaffung der KSK würden ihnen und noch mehr den Kommunen die sozialen Folgekosten dieses Angriffs auf ein funktionierendes Sicherungssystem auf die Füße fallen.“

Tragfähige Modelle für eine Reform der sozialen Sicherung, die den Finanzierungsproblemen des Sozialstaats wie auch den wachsenden Risiken volatiler Märkte Rechnung tragen, sind nach Ansicht der ZeS-Expertinnen gerade in Deutschland Mangelware. Die Künstlersozialkasse könnte hier immerhin einen Weg weisen.

 

Wetere Informationen:
Prof. Dr. Karin Gottschall
Dr. Sigrid Betzelt
Zentrum für Sozialpolitik

Tel. 0421/218-4402, -4376 oder 0160/99112410
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