Bereits im Herbst 2021 hatte sich die up2date-Redaktion mit dem Informatikprofessor aus der Gründungszeit der Universität getroffen. Damals stand Nake kurz vor seinem 100. Semester – mittlerweile neigt sich sein 103. dem Ende entgegen. Einen Artikel hat der mittlerweile 85-jährige Informatik-Professor damals wie heute verdient. Weil er die spannenden Anfangsjahre der Reform-Universität Bremen miterlebt hat? Sicherlich. Aber vor allem, weil er richtig gut erzählen kann.
Das Erzählen passt besonders gut zu einem bestimmten Ort auf dem Campus: Dem Hörsaal des MZH-Gebäudes. Hier hat Nake so manche Stunde seines Berufslebens verbracht. Praktischerweise liegt der Saal direkt gegenüber von seinem Büro. Da braucht er offenbar nicht mal feste Schuhe anzuziehen, sondern kann einfach in seinen Büro-Schlappen hinübergehen. Richtig? „Nein, das sind meine normalen Schuhe. Ich trage eigentlich immer Sandalen, solange es irgendwie geht im Jahr,“ stellt Nake klar. Ein schwarzes Hemd, eine Wanderhose mit praktischen Seitentaschen und dicke Wollsocken vervollständigen den Look – mehr braucht der braungebrannte Professor für einen Tag an der Uni nicht.
„Meine Lehre war schon immer etwas lockerer“, schmunzelt der Informatiker, der 1972 eine Professur für Grafische Datenverarbeitung und interaktive Systeme an der Universität Bremen annahm. Einen Aktenkoffer mit Fachliteratur oder Powerpoint-Folien mit Formeln sucht man bei ihm vergeblich. „Ich erzähle meinen Studierenden lieber etwas. So vermittle ich das Fachwissen eher nebenbei und immer anhand einer relevanten Fragestellung“, erklärt Nake.
Mit Studierenden im Kreis sitzen
Mit diesem Ansatz folgt er einem der Gründungsgedanken der Universität Bremen. An der Weser sollte Anfang der 1970er Jahre vieles anders werden. Unter anderem sollten Forschung und Lehre stets gesellschaftlich relevant sein. Für Nake bedeutete das: In seinem ersten Seminar saß er mit fünf Studierenden im Kreis und tauschte sich im sogenannten Projektstudium über die Chancen und Grenzen von Computern aus – am konkreten Beispiel der Arbeitsvermittlung. Sogar ein Beamter von der Bundesanstalt für Arbeit kam aus Nürnberg an die neue Universität Bremen, um die Ideen der Studierenden und ihres Profs kennen zu lernen. „Alles, was damals an der Universität passierte, hatte einen direkten Bezug zur realen Welt. Das hat mir gefallen“, sagt der Informatiker. Was ihm ebenfalls zusagte: An der Uni Bremen gab es in den 1970ern die sogenannte Drittelparität. Professor:innen, Verwaltungsmitarbeitende und Studierende waren in allen Belangen gleichberechtigt. „Diese Drittelparität war sensationell, so etwas hatte ich in Deutschland noch nie erlebt“, sagt Nake.
Frieder Nake in seinem zweiten “Wohnzimmer” - dem Hörsaal im Gebäude MZH. Das Foto entstand im Herbst 2021.
© Matej Meža / Universität Bremen
Professur als politische Aufgabe
Dass an der neuen Uni Bremen so vieles so anders laufen sollte, war der Grund, warum der gebürtige Stuttgarter 1972 überhaupt aus Kanada nach Deutschland zurückkam. „Ich war einige Jahre zuvor ausgewandert, weil mir das deutsche Hochschulwesen viel zu verknöchert war“, sagt der Wissenschaftler. „Nun an dieser radikal anderen Uni Professor zu werden, war für mich auch eine politische Aufgabe“, sagt Nake.
Inwiefern? „Seit meinem 16. Lebensjahr fühle ich mich der radikalen Linken zugehörig,“ stellt Nake klar. Er war Mitglied in kommunistischen Vereinigungen, hatte in den 70er Jahren im Rahmen des sogenannten Radikalenerlasses ein Disziplinarverfahren zu überstehen. An seinen politischen Überzeugungen hält er fest – obwohl sich mittlerweile vieles an der Uni Bremen geändert hat. So prägen der Marxismus und ein stetiger Aufruf zum dialektischen Denken seine Lehre. „Wir sollten immer das Gegenteil mitdenken – das habe ich schon meinen Kindern beigebracht und lege es auch jedem meiner Studierenden nahe. Es gibt niemanden, der eine meiner Veranstaltungen besucht hat und den Namen Hegel nicht kennt.“
Lehre als Erzählung
Auf die Frage, ob er sich sicher sei, dass er wirklich Informatik lehre, reagiert er mit einem Lachen. „Der Blick über den Tellerrand gehört mit dazu. Lehre muss eine Erzählung sein, muss Stellung beziehen aufgrund von Fachwissen“, sagt er. Vor einiger Zeit bot er ein Seminar mit dem Titel „Algorithmic Thinking“ an. 70 Studierende nahmen teil und er wusste schon Wochen vorher, wie er die Veranstaltung beginnen wird: Reinkommen, hinsetzen und nichts sagen. Für volle zehn Minuten. Wenn jemand tuschelt oder mit dem Stuhl scharrt: ignorieren. Nach zehn Minuten aufstehen und fragen: Was habt ihr gerade gedacht? „So erfahren die Studierenden, was es bedeutet, aufs Denken zurückgeworfen zu werden“, erläutert der Hochschullehrer. Uni als Happening. So mag er es am liebsten.
90-Stunden-Woche ist normal
Und wenn er mal nicht an der Uni ist? „Mein Leben ist Arbeit. Ich habe eine 90-Stunden-Woche und höre abends erst auf, wenn das heute journal beginnt,“ sagt er. Einen Ruhemoment am Tag gönnt er sich allerdings: Der Informatiker liebt es, morgens in der kleinen Küche seines Borgfelder Hauses ein Käsebrot zu essen, mit Blick auf die großen Bäume im Garten.
Was viele an der Uni nicht wissen: Frieder Nake ist ein renommierter Vertreter der Computerkunst. Das ist Kunst, die digital mit dem Rechner erzeugt wird. Mitte der 1960er Jahre war er einer von nur drei Künstlern weltweit, die sich mit dieser Art von Kunst beschäftigt haben. Innerhalb kürzester Zeit machte er sich international einen Namen. „Ich erstelle Projektionen auf möglichst großen Bildschirmen, die sich fortlaufend und ohne Wiederholung ändern. Der Computer rechnet und läuft und zeigt. Es sind dynamische Bilder, die dann entstehen, wenn wir hinsehen“, erläutert Nake.
Die Computerkunst wird ihn auf jeden Fall weiterhin begleiten. Doch das Dozenten-Dasein an der Universität hat am 30. Januar ein Ende. Es sei denn, er entscheidet sich nochmal um – zuzutrauen wäre es ihm. Das meinen jedenfalls seine Kolleg:innen aus dem Fachbereich. Also besser so: Sein vorerst letztes Seminar: “Move on! - A perspective of Digital Media” beginnt wie immer um 14 Uhr, dieses Mal allerdings in der Kunsthalle. Nach 13 Wochen intensiver Beschäftigung mit algorithmischer Kunst, ihren wichtigsten Vertreter:innen und dem Kontext, in dem ihre Werke gesehen werden können, verspricht der Besuch in der Kunsthalle der krönende Abschluss zu werden. Im Kupferstichkabinett werden die etwa 30 Masterstudierenden und ihr Dozent verschiedene Werke aus der Computerkunst betrachten und besprechen, die sonst meist im Magazin lagern. Ein passender Abschluss für einen Informatiker und Künstler, der das Leben und Lernen unzähliger Studierender der Universität Bremen seit 103 Semestern bereichert.