(T) Komplexes Erzählen

Dr. André Steiner

Gemeinhin wird unter einer komplexen Erzählung – im Unterschied zu den einfacheren Formen der Kurzgeschichte, der Novelle oder des Märchens – ein Roman verstanden, der eine ganze Welt oder ein Epochenbild entwirft wie etwa Thomas Manns „Zauberberg“ (1924) und Lew Tolstois „Krieg und Frieden“ (1868/69). Erstaunlicherweise ist komplexes Erzählen als solches in der Erzählforschung jedoch bisher nur selten thematisiert worden. Das mag daran liegen, dass man Produktion und auch Rezeption jedenfalls anspruchsvollerer literarischer Texte schon immer als komplexen Vorgang begriffen hat und deswegen eine gesonderte Betrachtung unter dem Aspekt der Komplexität als redundant ansah. Dabei wurde mit wenigen Ausnahmen (z.B. Wrobel 1997) übersehen, dass komplexes Erzählen charakteristische Muster aufweist, etwa zyklische Strukturen oder das Fehlen einer zentralen Instanz, die auf eine veränderte Erfahrung von Welt/Wirklichkeit bei den Autoren hindeuten. Komplexes Erzählen setzt somit eine Tendenz fort, die seit dem Ausgang der Moderne das herkömmliche lineare Erzählen angesichts der katastrophischen Erfahrung der beiden Weltkriege und einer durch Innovationsschübe geprägten gesellschaftlichen Dynamik zunehmend als ungenügend erscheinen lässt.

Spätestens seit Musils „Mann ohne Eigenschaften“ (1930/43) geht es nicht nur um die Frage nach dem Wirklichen, sondern auch um ein Leben in der Möglichkeitsform, das auf subtile Weise mit naturwissenschaftlichen Entdeckungen und der philosophischen Theorie korrespondiert. Diese Tendenz hat sich in den letzten Jahrzehnten durch die Digitalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und die Klimakatastrophe als zu bewältigenden Herausforderungen weiter radikalisiert. Da es sich in beiden Fällen um komplexe Phänomene handelt, die vom Subjekt weitgehende Verhaltensänderungen verlangen, liegt es nahe, dass sich auch das literarische Erzählen dieser Problematik annimmt, die schon seit einiger Zeit in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt ist.

In der Vorlesung soll es zunächst darum gehen, typische Muster komplexen Erzählens zu identifizieren. Dass sich dabei die Muster in ihrer Phänomenalität nicht auf die Sphäre reiner Ästhetik beschränken lassen, sondern mit den genannten, mittlerweile globalen Tendenzen korrespondieren, soll als Ausgangsthese dienen. Es wird im Weiteren also auch darum gehen, einen Brückenschlag zum relativ neuen Diskurs der Komplexitätsforschung (Mainzer 2008) zu wagen und zu fragen, ob und wenn ja, auf welche Weise sich die Literaturwissenschaft in diesen Cluster einordnen ließe.

Die Vorlesung wendet sich aufgrund der interdisziplinären Perspektive vor allem an Studierende, die neben dem Interesse an Literatur auch ein Faible für die mit der Thematik verbundenen, zuvor skizzierten Fragestellungen mitbringen.

 

Von dem Dozenten gibt es dazu auch ein Buch, das unter dem Titel „Komplexes Erzählen. Literatur auf 2+n-ter Stufe“ als Open Access im Transcript-Verlag erschienen ist

https://unihb.eu/steiner

Interessierte können sich das begleitend zur Vorlesung kostenfrei als PDF herunterladen.
 



Dozent:    Dr. phil. André Steiner

Termine:    4 x mittwochs

  • 21.02., 28.02., 06.03., 13.03.2024

Zeit:    10:15 (s.t.) bis 11:45 Uhr

Entgelt:    50,- Euro

Veranstaltungsart/ -ort:    hybrid, in Präsenz (Akademie, Raum B 0660) oder wahlweise Online-Teilnahme

Hinweis: Teilnehmerbegrenzung: 40 Personen

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