(K) Jon Fosse: „Morgen und Abend“ (2000)
Als Jon Olav Fosse 2023 den Literaturnobelpreis erhält, heißt es in der Begründung, dass seine „innovativen Theaterstücke und seine Prosa dem Unsagbaren eine Stimme geben“. Die „radikale Reduktion von Sprache und dramatischer Handlung drücke die stärksten menschlichen Emotionen von Angst und Ohnmacht in den einfachsten Alltagsbegriffen aus“. Nichtsdestotrotz gebe es in seiner Arbeit „große Wärme und Humor und eine naive Verletzlichkeit gegenüber seinen nüchternen Bildern menschlicher Erfahrung“. Was genau dies bedeutet, soll in diesem Seminar anhand des kurzen Romans „Morgen und Abend“ besprochen werden.
Es geht dabei um die Geschichte des Fischers Johannes, der nach einem erfüllten Leben in einem norwegischen Fischerdorf stirbt. Der Auftakt ist seine Geburt. So heißt es in der für diesen Roman typischen mündlich-karg-melodischen Sprache, die im Verlauf der Lektüre eine erstaunliche Sogwirkung entfaltet: „Geht es dir gut Marta?, fragt Olai/ und er denkt, er hat einfach was sagen müssen, konnte nicht nur dumm dastehen und schweigen in einem solchen Moment, denkt Olai neben dem Bett, in dem Marta liegt mit dem kleinen Johannes an der Brust, und Marta antwortet nicht und Olai sieht Marta die Augen aufschlagen und ihn ansehen und er kann ihre Augen nicht verstehen, sie schauen ihn von irgendwo weit weg an und sie wissen etwas, das er nicht weiß, und er hat die Frauen eigentlich nie so ganz verstanden, irgendwas wissen die, etwas, das er nicht begreift, dass sie nicht verraten und sicher auch nicht sagen können, weil es sich nicht sagen lässt“.
Zuletzt schließt sich der Kreis: „Johannes sieht, dass sie jetzt auf die Großschäre und die Kleinschäre zuhalten, und Johannes hat sich bei so einem Wetter noch nie so weit nach Westen rausgewagt, denn es stürmt und die Wellen sind hoch und Peters Kutter wird von den Wellen hochgehoben und fallen gelassen und dann sitzen sie nicht mehr in Peters Kutter, sondern in einem Boot und sie sind auf dem Meer und Himmel und Meer sind wie ein und dasselbe und See und Wolken und Wind sind wie ein und dasselbe und dann ist alles, was Licht und Wasser ist, ein und dasselbe und da ist ja Erna und ihre Augen leuchten und das Licht von ihren Augen ist auch wie all das andere“.
Jon Olav Fosse wurde am 29. September 1959 in Haugesund/ Norwegen geboren und wuchs in Strandebarm am Hardangerfjord auf. Ende der Siebziger Jahre zog er nach Bergen, wo er 1987 sein Studium der Literaturwissenschaft, Soziologie und Philosophie abschloss. Als Prosaautor debütierte Fosse 1983 mit dem Roman „Rot, schwarz“. 1994 wurde sein erstes Theaterstück „Und trennen werden wir uns nie“ am Bergenser Theater „Den Nationale Scene“ uraufgeführt. Jon Fosse gilt als bekanntester norwegischer Dramatiker seit Henrik Ibsen und wurde mehrfach als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt, bis er ihn 2023 zu seiner Überraschung schließlich tatsächlich gewann. Fosse bewohnt seit 2011 „die Grotte“, ein seit 1922 vom norwegischen Staat finanziertes Wohnhaus für Künstler am Rand des Osloer Schlossparks. Er genießt dort exklusives und lebenslanges Wohnrecht. Vor ihm bewohnten wechselnde Komponisten und Literaten das Haus, darunter der Nationaldichter Henrik Wergeland, der das Grundstück 1841 gekauft und das Wohnhaus errichtet hatte. Jon Fosse lebt außerdem in Frekhaug, nahe Bergen, sowie in Hainburg an der Donau, unweit von Wien.
„Morgen und Abend“ ist als Taschenbuch erhältlich.
Dozentin: Dr. Ina Düking
Termine: 2 Termine
- Dienstag, 01.10.2024
- Mittwoch, 02.10.2024
Zeit: 14:15 (s.t.) bis 15:45 Uhr
Entgelt: 35,- Euro
Veranstaltungsart/ -ort: in Präsenz (Akademie, Raum B 0770)
Hinweis: Teilnehmerbegrenzung: 40 Personen in Präsenz