Liebe Leser:innen,
willkommen zum ersten Newsletter des BALLON-Projekts, der sich immer rund um die Barrierefreiheit/Barrierearmut dreht. Die Corona-Pandemie und die damit einhergehende Verlagerung des Präsenzstudiums in digitale Lern- und Lehrformate stellen Hochschullehrende, Mitarbeitende und Studierende vor eine besondere Herausforderung. Unser Team möchte deshalb mit dem Projekt BALLON – Barrierearmes Lernen und Lehren Online – ein Supportsystem für Lehrende und Studierende bezüglich eines barrierearmen digitalen Studiums an Bremer Hochschulen aufbauen. In diesem Rahmen wird monatlich ein Newsletter erscheinen, der diverse Themen zur barrierearmen Lehre und zum Lernen behandelt. In dieser ersten Ausgabe möchten wir eine Einführung in die barrierearme digitale Lehre geben.
1. Was ist BALLON?
Ziel des BALLON-Projektes ist es, die Chancengleichheit zu erhöhen und gesetzlich verpflichtende Anforderungen an die Barrierearmut gemeinsam mit den Hochschulangehörigen umzusetzen (maßgeblich ist das Bremische Behindertengleichstellungsgesetz – BremBGG). Das Unterstützungsangebot umfasst das Informieren und Sensibilisieren zum Thema Barrierearmut, das Beraten bei der eigenständigen Erstellung und Überprüfung von Studienmaterialien, das Bereitstellen von Checklisten und Werkzeugen und das Prüfen solchen Materials auf Barrierearmut.
2. Barrierearmut oder Barrierefreiheit?
Die Begrifflichkeiten Barrierearmut und Barrierefreiheit werden oft synonym verwendet, dabei bestehen Unterschiede. Barrierefreiheit ist gesetzlich in § 5 BremBGG definiert. Der Begriff Barrierearmut ist hingegen gesetzlich gar nicht gebraucht und wird umgangssprachlich oft im Zusammenhang mit der Verringerung von Hindernissen verwendet, die den Bewegungsapparat betreffen1. Barrierearm umschreibt die Reduzierung von Barrieren, während barrierefrei von einem umfassenden Abbau aller Barrieren ausgeht2. Des Weiteren verfolgt der Begriff der Barrierefreiheit einen statischen und vor allem einen eindeutigen Zustand. Dies bedeutet, dass gerade im digitalen Zeitalter die unzulänglichen technischen Kenntnisse beseitigt werden müssen3. Hinzu kommt, dass der Begriff der Barrierefreiheit auch in der digitalen Welt einen immer höheren Stellenwert einnimmt und daher im sprachlichen Gebrauch häufiger ist4. Konsens besteht dennoch über das Ziel, wonach ein vollständiger Zugang für alle Menschen und uneingeschränkte Nutzungsmöglichkeiten in allen durch den Menschen gestaltete Lebensbereiche erreicht werden soll. Dies umfasst sowohl den Abbau baulicher als auch digitaler Barrieren.
Wir haben selbst über die Verwendung der Begrifflichkeiten diskutiert, wobei folgende Argumente aufkamen: Gegen den Begriff der Barrierefreiheit spricht für die Stiftung-Liebenau, dass ein vollständiger Abbau der Barrieren für alle Menschen gleichermaßen durch die unterschiedlichsten Bedürfnisse nicht zu erreichen sei5. Dafür spricht jedoch die Betonung des Ideals und das eindeutige Streben danach. Hinzu kommt, dass der Begriff Barrierearmut zwei negative Begriffe enthält. Sowohl Barrieren als auch Armut sind im allgemeinen Verständnis negativ konnotiert. Im Vergleich zu anderen Sprachen, existiert im englischen nur das Wort full accessibility, das mit Barrierefreiheit zu übersetzen ist. Barrierearmut hingegen spiegelt eher die wirklich vorliegende Situation wieder und ist damit realitätsnäher. Deshalb bevorzugen wir als Team den Begriff der Barrierearmut. Uns ist wichtig zu betonen, dass Barrieren auch nach einem weitgehenden Abbau nicht außer acht gelassen werden dürfen. Denn Barrierearmut kommt nicht bloß einer Minderheit zugute, sondern unterstützt alle.
De Oliveira (2018) betrachtet sowohl die Barrierefreiheit als auch die Barrierearmut als negative Begrifflichkeiten für die Gesellschaft. Der erste Begriff beinhaltet auf der einen Seite nach de Oliveira einen nahezu utopischen Zustand, der nicht erreichbar ist. Auf der anderen Seite ist der Begriff der Barrierearmut gleich mit zwei negativen Konnotationen belastet, weshalb de Oliveira diesen Begriff zwar als realitätsnaher kennzeichnet, aber noch nicht als passend . Eine optimale Begrifflichkeit, die sich diesem Thema widmet, wird durch den oben genannten Begriff Zugänglichkeit oder auch full accessibility erst realitätsnah betrachtet und behandelt. Durch diese Begrifflichkeit werden nicht nur Barrieren im Bereich der Behinderung aufgegriffen, sondern auch weitere Einschränkungen eingeschlossen, die unsere Gesellschaft prägen können. Fakt ist allerdings, dass jede Begrifflichkeit einen Prozess darstellt. In diesem Prozess ist es notwendig, Barrieren und Einschränkungen im gesellschaftlichen Miteinander zu beheben. De facto sollen nicht Regeln oder Richtlinien entscheiden, was barrierefrei, barrierearm oder voll zugänglich ist. Vielmehr müssen die Bedürfnisse der Menschen, die betroffen sind, genauer wahrgenommen und betrachtet werden6.
3. Relevanz des Themas in der digitalen Lehre
Barrierearmut im digitalen Bereich bedeutet, dass dieser für Menschen mit Behinderung in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar ist, vgl. § 5 BremBGG (das Gesetz spricht hierbei von Barrierfeiheit). Gerade durch die Corona-bedingte Verschiebung des Lernraums in den digitalen Bereich zur ausschließlichen Online-Lehre hat die Bedeutung vorhandener digitaler Barrieren im Studium und das Bewusstsein für die Konsequenzen Betroffener stärker in den Fokus gerückt. Nun ist es für das Absolvieren des Studiums unerlässlich einen möglichst barrierearmen digitalen Bereich zu schaffen. Daneben sind aber auch von der Pandemie unabhängige Faktoren vorhanden, die zur Steigerung der Relevanz einer barrierearmen Online-Lehre führen. Hierunter zählt z. B. die geförderte Digitalisierung der Hochschulen. Diese streitet auch voran, sodass auch unabhängig von der Pandemie zukunftsorientiert die Förderung der digitalen Barrierearmut notwendig ist.
4. Häufigkeiten und Formen der Behinderungen und Erkrankung7
Behinderungen und Erkrankungen betroffener Studierender sind sehr vielfältig und oftmals für die Lehrenden und Mitstudierenden nicht wahrnehmbar. Im Land Bremen gaben 31 % der befragten Studierenden an, eine physische oder psychische Behinderung oder Erkrankung zu haben. Davon erschweren 16 % der Behinderungen und Erkrankungen das Studium. Hierbei weisen 60 % einen starken, 28 % einen mittelmäßigen und lediglich 12 % einen schwachen Grad der Studienbeeinträchtigung auf. Mit 53 % von allen Behinderungen und Erkrankungen handelt es sich überwiegend um psychische Erkrankungen. Daneben treten noch chronisch-somatische Erkrankungen in 20 % der Fälle und andere langfristige Erkrankungen mit 6 % gehäuft auf. Die anderen 14 % verteilen sich auf Bewegungs-, Hör- und Sprech- sowie Sehbeeinträchtigung und die Teilleistungsstörung. Die Ursachen können dabei verschiedenen Ursprungs sein. So kann eine Beeinträchtigung durch eine Behinderung, eine Erkrankung, aber auch durch Betreuungsaufgaben oder in Form einer Sprachbarriere insbesondere bei Nicht-Muttersprachler:innen entstehen.
5. Anforderungen an die Lehre
Die Barrieren aller Behinderungen und Erkrankungen während des Studiums können zwar nicht universell und anhand einer definierten Regel abgebaut werden, allerdings kann und sollte die Kompatibilität zwischen Lehrenden als Sender und dem Empfänger auf Studierendenseite verbessert werden. Dieses Ziel wird gesetzlich gefordert, wodurch sich die Barrierearmut in Form veränderter Lehrstrukturen zur Erfüllung gesetzlicher Anforderungen auswirkt. Als Leitlinie für eine weitestgehend barrierearme Lehre können das KISS- und das Mehrkanal-Prinzip genutzt werden. Das KISS-Prinzip bedeutet: Keep It Short And Simple. Zudem sollte die Informationsvermittlung über mindestens zwei Sinne erfolgen (Mehrkanal-Prinzip) z. B. auditive Vorlesung und schriftliches Skript. Die Gestaltung des Lehrmaterials sollte hierauf angepasst sein. Hierzu können weitere Informationen, Checklisten und Werkzeuge auf unserer Website abgerufen werden.
Es wird deutlich, dass dem Thema Barrierearmut nicht bloß vereinzelt Bedeutung zukommt. Um den Abbau der Barrieren zu ermöglichen, ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema und eine entsprechende Anpassung der Lehre nötig. Die folgenden Newsletter sollen hierzu neben weiterem Hintergrundwissen und den gesetzlich verpflichtenden Anforderungen insbesondere auch Hilfestellungen zur Gestaltung von barrierearmen Material wie PDFs, der Vorlesung oder auch zu barrierearmen Prüfungen geben. Im nächsten Newsletter geht es beispielsweise um den sprachlichen Umgang mit Begrifflichkeiten wie „Beeinträchtigung“ und „Behinderung“. Bei Fragen oder für weitere Informationen und Hilfestellungen zur/zum barrierearmen digitalen Lehre/Lernen kann sich gerne an uns gewandt werden (ballonprotect me ?!uni-bremenprotect me ?!.de).
Liebe Grüße
Ihr BALLON-Team
Quellen:
1Busch (Stand 2019): Steckbrief Barrierearmut und -freiheit, Zukunftszentrum Holzminden Höxter, https://www.behindertenbeauftragter.de/DE/DerBeauftragte/DerBeauftragte_node.html.
2Wenz und Hauser (2015): Websites optimieren - Das Handbuch. Springer Fachmedien Wiesbaden.
3
Barrierekompass (2005): Portal für digitale Barrierefreiheit. URL: barrierekompass.de/aktuelles/detail/barrierefrei-barrierearm-accessible-oder-einfach-benutzerfreundlich.html
4ebd.
5Für den Begriff der Barriereramut: Stiftung Liebenau (Hrsg.): In unserer Mitte - Der Mensch, Barrierearmut - Stiftung Liebenau (stiftung-liebenau.de).
Für Barrierefreiheit:Aktion Mensch (Hrsg.): Einführung in Barrierefreiheit, Einführung in die Barrierefreiheit : Einfach für Alle (einfach-fuer-alle.de).
6De Oliveira, Domingos (2018): Barrierefreiheit umsetzen. Ein Leitfaden für Unternehmen, Behörden und NGOs. Books on Demand. Norderstedt.
7Middendorff, E. et al (2017): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2016. 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), URL;
Poskowsky, J. et al. (2018): Beeinträchtigt studieren – best2. Datenerhebung zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit 2016/17. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), URL.