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Der Dienstälteste

Wirklich sicher ist sich Frieder Nake nicht: Ist er tatsächlich der dienstälteste Lehrende an der Universität Bremen? Vermutlich schon, denn im kommenden April beginnt sein 100. Semester. Nach fast 50 Jahren in der Lehre hat der 82-jährige Informatik-Professor so manche Geschichte zu erzählen.

Bevor es ans Erzählen geht, steht allerdings erstmal der Fototermin an. Denn zu so einer Campusgeschichte gehört ein möglichst realistisches Abbild des Porträtierten. Im Hörsaal des MZH-Gebäudes auf dem Campus soll es gemacht werden, denn dort fühlt sich Frieder Nake besonders heimisch. Der Hörsaal liegt direkt gegenüber von seinem Büro. Da braucht er offenbar nicht mal feste Schuhe anzuziehen, sondern kann einfach in seinen Büro-Schlappen hinübergehen. Richtig? „Nein, das sind meine normalen Schuhe. Ich trage eigentlich immer Sandalen, solange es irgendwie geht im Jahr,“ stellt Nake klar. Ein schwarzes Hemd, eine Wanderhose mit praktischen Seitentaschen und dicke Wollsocken vervollständigen den Look – mehr braucht der braungebrannte 82-Jährige für einen Tag an der Uni nicht.

„Meine Lehre war schon immer etwas lockerer“, schmunzelt der Informatiker, der 1972 eine Professur für Grafische Datenverarbeitung und interaktive Systeme an der Universität Bremen annahm. Einen Aktenkoffer mit Fachliteratur oder Powerpoint-Folien mit Formeln sucht man bei ihm vergeblich. „Ich erzähle meinen Studierenden lieber etwas. So vermittle ich das Fachwissen eher nebenbei und immer anhand einer relevanten Fragestellung“, erklärt Nake.

Mit Studierenden im Kreis sitzen

Mit diesem Ansatz folgt er einem der Gründungsgedanken der Universität Bremen. An der Weser sollte Anfang der 1970er Jahre vieles anders werden. Unter anderem sollten Forschung und Lehre stets gesellschaftlich relevant sein. Für Nake bedeutete das: In seinem ersten Seminar saß er mit fünf Studierenden im Kreis und tauschte sich im sogenannten Projektstudium über die Chancen und Grenzen von Computern aus – am konkreten Beispiel der Arbeitsvermittlung. Sogar ein Beamter von der Bundesanstalt für Arbeit kam aus Nürnberg an die neue Universität Bremen, um die Ideen der Studierenden und ihres Profs kennen zu lernen. „Alles, was damals an der Universität passierte, hatte einen direkten Bezug zur realen Welt. Das hat mir gefallen“, sagt der Informatiker.

Was ihm ebenfalls zusagte: An der Uni Bremen gab es in den 1970ern die sogenannte Drittelparität. Professor:innen, Verwaltungsmitarbeitende und Studierende waren in allen Belangen gleichberechtigt. „Diese Drittelparität war sensationell, so etwas hatte ich in Deutschland noch nie erlebt“, sagt Nake.

Professur als politische Aufgabe

Dass an der neuen Uni Bremen so vieles so anders laufen sollte, war der Grund, warum der gebürtige Stuttgarter 1972 überhaupt aus Kanada nach Deutschland zurückkam. „Ich war einige Jahre zuvor ausgewandert, weil mir das deutsche Hochschulwesen viel zu verknöchert war“, sagt der Wissenschaftler. „Nun an dieser radikal anderen Uni Professor zu werden, war für mich auch eine politische Aufgabe“, sagt Nake.

Inwiefern? „Seit meinem 16. Lebensjahr fühle ich mich der radikalen Linken zugehörig,“ stellt Nake klar. Er war Mitglied in kommunistischen Vereinigungen, hatte in den 70er Jahren im Rahmen des sogenannten Radikalenerlasses ein Disziplinarverfahren zu überstehen. An seinen politischen Überzeugungen hält er fest – obwohl sich mittlerweile vieles an der Uni Bremen geändert hat. So prägen der Marxismus und ein stetiger Aufruf zum dialektischen Denken seine Lehre. „Wir sollten immer das Gegenteil mitdenken – das habe ich schon meinen Kindern beigebracht und lege es auch jedem meiner Studierenden nahe. Es gibt niemanden, der eine meiner Veranstaltungen besucht hat und den Namen Hegel nicht kennt.“

Lehre als Erzählung

Auf die Frage, ob er sich sicher sei, dass er wirklich Informatik lehre, reagiert er mit einem Lachen. „Der Blick über den Tellerrand gehört mit dazu. Lehre muss eine Erzählung sein, muss Stellung beziehen aufgrund von Fachwissen“, sagt er.

Aktuelles Beispiel: In diesem Wintersemester bietet er ein Seminar an mit dem Titel „Algorithmic Thinking“ an. 70 Studierende nehmen teil und er wusste schon Wochen vorher, wie er die Veranstaltung beginnen wird: Reinkommen, hinsetzen und nichts sagen. Für volle zehn Minuten. Wenn jemand tuschelt oder mit dem Stuhl scharrt: ignorieren. Nach zehn Minuten aufstehen und fragen: Was habt ihr gerade gedacht? „So erfahren die Studierenden, was es bedeutet, aufs Denken zurückgeworfen zu werden“, erläutert der Hochschullehrer. Uni als Happening. So mag er es am liebsten.

90-Stunden-Woche ist normal

Und wenn er mal nicht an der Uni ist? „Mein Leben ist Arbeit. Ich habe eine 90-Stunden-Woche und höre abends erst auf, wenn das heute journal beginnt,“ sagt er. Einen Ruhemoment am Tag gönnt er sich allerdings: Der Informatiker liebt es, morgens in der kleinen Küche seines Borgfelder Hauses ein Käsebrot zu essen, mit Blick auf die großen Bäume im Garten.

Was viele an der Uni nicht wissen: Frieder Nake ist ein renommierter Vertreter der Computerkunst. Das ist Kunst, die digital mit dem Rechner erzeugt wird. Mitte der 1960er Jahre war er einer von nur drei Künstlern weltweit, die sich mit dieser Art von Kunst beschäftigt haben. Innerhalb kürzester Zeit machte er sich international einen Namen. Bis heute stellt er seine Bilder und interaktiven Installationen regelmäßig aus, das nächste Mal im Februar im Bremer Gerhard-Marcks-Haus. „Ich erstelle Projektionen auf möglichst großen Bildschirmen, die sich fortlaufend und ohne Wiederholung ändern. Der Computer rechnet und läuft und zeigt. Es sind dynamische Bilder, die dann entstehen, wenn wir hinsehen“, erläutert Nake.

Offiziell ist er mit seinen 82 Jahren natürlich pensioniert, darf aber als Professor lebenslang weiterlehren. In seinen fast 50 Dienstjahren hat er insgesamt 435 Studierende zu einem Abschluss betreut, das weiß er ganz genau. Langsam macht sich allerdings ein Gedanke in seinem Hinterkopf breit: „Vielleicht ist das Sommersemester 2022 tatsächlich mein letztes“, kündigt er mit ungewohnt zaghafter Stimme an. Es fällt ihm sichtlich schwer, darüber nachzudenken. Selbst wenn er bald nicht mehr täglich zur Uni fährt, wird es ihm allerdings nicht langweilig werden: „Dann werde ich künstlerisch programmieren – und zwar bis es kracht!“

Fragen beantwortet:

Professor Frieder Nake
Fachbereich 3 Mathematik und Informatik
E-Mail: nakeuni-bremen.de
Telefon:+49 421 218-64485

Professor Dr. Frieder Nake