Allgemeine Informationen

Kriterien für Fragebogenmodule zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt

In einem ersten Schritt des partizipativen Entwicklungsprozesses der Toolbox (Entwicklung der Toolbox) wurden gemeinsam mit den Stakeholdern sechs Kriterien gesammelt, die von der Gruppe als besonders relevant für Fragebogenitems zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt erachtet wurden. Diese Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll Forschende dabei unterstützen geeignete Module für ihre Datenerhebung auszuwählen.

1. Informationsgehalt für die Fragestellung

Nicht jede Dimension von Geschlecht ist für jede gesundheitliche Zielgröße von Relevanz (Krieger, 2003). Forschende sollten daher sorgfältig entscheiden, welche geschlechtsbezogenen Informationen relevant für ihre Forschungsfrage sind und entsprechende Erhebungsinstrumente verwenden, die diese erfassen (Committee on Measuring Sex, Gender Identity, and Sexual Orientation et al., 2022; Day et al., 2017; Döring, 2013). Dies bedeutet zum einen, dass sichergestellt werden muss, dass die verwendeten Fragebogenmodule auch tatsächlich die Aspekte von Geschlecht erfassen, die sie messen sollen. Zum anderen sollten Forschende nur die Informationen erheben, die zur Beant- wortung der Fragestellung notwendig sind. Überflüssige Informationen sollten nicht erhoben werden (Committee on Measuring Sex, Gender Identity, and Sexual Orientation et al., 2022; Hoffmann et al., 2019).

2. Verständlichkeit

Bei der Formulierung von Fragebogenitems für eine Studie sollten Forschende ein Gleichgewicht zwischen dem Wunsch nach einer möglichst präzisen Erfassung von geschlechtlicher Vielfalt und der Vermeidung einer Überforderung der Teilnehmenden durch zu komplexe Abfragen finden. Es sollte sichergestellt werden, dass Teilnehmende in der Lage sind die Fragebogenitems zu beantworten. Insbesondere in Bezug auf geschlechtsbezogene Fragen sollte gewährleistet werden, dass die ver- wendeten Begriffe für alle verständlich und eindeutig einzuordnen sind (Committee on Measuring Sex, Gender Identity, and Sexual Orientation et al., 2022).

3. Akzeptanz der Teilnehmenden

Bei vielen geschlechtsbezogenen Variablen handelt es sich um sensible Informationen. Beim Einsatz von Fragebogenmodulen sollten Forschende darüber reflektieren, ob die Studienteilnehmenden bereit sein werden, die abgefragten Informationen zur Verfügung zu stellen (Committee on Measuring Sex, Gender Identity, and Sexual Orientation et al., 2022). In diesem Zusammenhang sollten sie sorgfältig abwägen, ob die ausgewählten Erhebungsmethoden dafür geeignet sind, um die Informationen von Interesse zu erfassen (Hoffmann et al., 2019).

4. Keine Diskriminierung

Jede einzelne Person, die einen Fragebogen ausfüllt, sollte in der Lage sein, sich selbst in den angebotenen Antwortoptionen bei der Abfrage von Geschlecht wiederzufinden und diese für sich beantworten zu können (Committee on Measuring Sex, Gender Identity, and Sexual Orientation et al., 2022). Forschende sollten daher sicherstellen, dass niemand durch die ausgewählten Fragebogenmodule diskriminiert oder ausgeschlossen wird (Eichler and Burke, 2006).

5. Vermeidung von Stereotypen

Viele Verhaltensweisen und Charakterzüge sind noch immer stark mit einer geschlechtsspezifischen Konnotation versehen. Bei der Abfrage von Geschlechterrollen und -normen besteht die Gefahr diese Stereotype zu reproduzieren, statt neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren (Döring, 2013). Forschende sollten daher sorgfältig abwägen, ob bestimmte Zusammenhänge wissenschaftlich fundiert sind oder es sich ausschließlich um eigene Ansichten und Meinungen handelt (Hammarström et al., 2016).

Textmarker in Rot, Grün, Orange und Gelb
© Christ/ Pixabay
6. Keine Vorannahme einer geschlechtlichen Binarität

Sowohl die sozialen als auch die biologischen Dimensionen von Geschlecht sind von einer großen Variabilität gekennzeichnet. Dies sollte auch bei deren Erfassung berücksichtigt werden, da ein ausschließlich binäres Verständnis von Geschlecht der Realität nicht gerecht wird (Bolte et al., 2021; Hammarström et al., 2014; Heise et al., 2019; Johnson and Repta, 2012; Springer et al., 2012).  

Die Antwortoption „Ich möchte keine Angabe machen“:

Für alle vorgestellten Items besteht die Möglichkeit die Kategorie „Ich möchte keine Angabe machen“ zu ergänzen. Wir möchten Forschende dazu aufrufen, sorgfältig abzuwägen, ob sie diese Option für ihren Fragebogen wählen. Die folgende Zusammenstellung aus Pro- und Contra-Argumenten soll bei der Entscheidungsfindung unterstützen.

Argumente, die für die Antwortoption „Ich möchte keine Angabe machen“ sprechen:
  • Frühzeitige Abbrüche bei der Beantwortung des Fragebogens können möglicherweise verhindert werden, da die Teilnehmenden sensible Fragen nicht beantworten müssen.
Argumente, die gegen die Antwortoption „Ich möchte keine Angabe machen“ sprechen:
  • Durch die Antwortoption „Ich möchte keine Angabe machen“ werden Teilnehmende überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht, dass es sich um eine sensible Frage handeln könnte.
  • Das Vorhandensein der Antwortoption „Ich möchte keine Angabe machen“ könnte Teilnehmende, die sonst eine der anderen Antwortoptionen ausgewählt hätten, dazu verleiten diese stattdessen zu wählen.
Gelber und Grüner Kugelschreiber
© Jess Bailey/ Pixabay

Dokumentation der Operationalisierung von Geschlecht

Die Art und Weise, wie Daten erfasst wurden, nimmt großen Einfluss auf Reliabilität und Validität der Ergebnisse (Vandenbroucke et al., 2007). Insbesondere in Bezug auf die Abfrage von Geschlecht können die Ergebnisse stark voneinander abweichen, je nachdem, wie sie erfasst werden. Eine Selbstangabe kann sich hierbei stark von Registerdaten (z.B. Geburtenregister, Krebsdatenbank) unterscheiden (Bauer et al., 2017).

Um Reproduzierbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Resultate zu erreichen, empfehlen wir Forschenden, sowohl die Quelle ihrer Daten als auch die genauen Operationalisierungen bei der Veröffentlichung der Ergebnisse zu beschreiben (Hoffmann et al., 2019; Welch et al., 2016).

Auswahl der Studienpopulationen

Forschende sollten sorgfältig im Hinblick auf ihre Forschungsfrage entscheiden, wen sie für ihre Studienpopulation rekrutieren und den Ein- bzw. Ausschluss bestimmter Geschlechtergruppen begründen (Hoffmann et al., 2019). Hierbei müssen unter Umständen stereotype Vorannahmen begründet werden. Im Fall von Filterfragen oder Items, die nur einem Teil der Studienpopulation vorgelegt werden, ist darauf zu achten, wirklich alle Teilnehmenden zu berücksichtigen, für die sie relevant sein könnten (Quelle).

Ein Beispiel hierfür ist, dass Fragen zur Schwangerschaft häufig ausschließlich an cis Frauen gerichtet werden. Dies erfasst nicht die Vielfalt der Erfahrungen, die im Leben auftreten können. Nicht jede Person, die schwanger werden könnte, ist eine cis Frau. Gleichzeitig ist auch nicht jede cis Frau in der Lage ein Kind zu gebären oder strebt dies an. Eine Befragung zu dieser Thematik sollte dementsprechend ausgerichtet werden (Moseson et al., 2020).

Interview*Effekte (auch bekannt als Interviewereffekte):

Klebezettel und Stifte
© Rudy and Peter Skitterians/ Pixabay

Bei persönlichen oder telefonischen Interviews sollte vorher reflektiert werden, welchen Effekt das Geschlecht der befragenden Person auf das Antwortverhalten haben könnte. Studien zeigen, dass das Geschlecht, sowie andere Merkmale der fragenden Person, das Antwortverhalten in Bezug auf Inhalt wie Ausführlichkeit der Antworten beeinflusst. Dabei spielen je nach Fragestellung auch noch andere Faktoren auf beiden Seiten eine Rolle, z.B. Bildungsstand oder Alter (Bogner and Landrock, 2014; Klein and Kühhirt, 2010). Gerade bei sensiblen Fragestellungen sollte das in der Erhebungsplanung berücksichtigt werden.

Geschlechtergerechte Formulierungen im Fragebogen

Erfahrungen und verinnerlichte gesellschaftliche Erwartungen und Normen können dazu führen, dass bestimmte Formulierungen oder Wörter direkt mit mentalen Bildern, Assoziationen oder auch Empfindungen verknüpft werden. Diese Mechanismen sollten auch bei der Erstellung von Fragebögen berücksichtigt werden, da sie sich auch auf das Antwortverhalten der Teilnehmenden auswirken können (Stahlberg et al. 2007).

Forschende sollten dies insbesondere bei der Verwendung von Formulierungen bedenken, die sich auf das Geschlecht beziehen. Wir empfehlen Forschenden potentielle Mechanismen sorgfältig abzuwägen und möglichst geschlechtergerecht zu formulieren. Im Folgenden sollen beispielhaft zwei Studien vorgestellt werden, die zeigen konnten, wie sich geschlechtsbezogene Formulierungen auf die Wahrnehmung der Teilnehmenden auswirken können. Darüber hinaus möchten wir Forschenden Hinweise zur Verfügung stellen, die sie bei der Formulierung ihrer Fragebogenitems unterstützen.

 

Aufgeschlagenes Notizbuch mit Stift

Beispiel 1:

Horvath und Sczesny führten 2013 eine experimentelle Studie mit 363 Studierenden österreichischer Universitäten durch. Hierfür legten sie den Studierenden Stellenausschreibungen für hohe Führungspositionen und die Profile verschiedener männlicher und weiblicher Kandidat*innen vor. Ein Teil der Ausschreibungen enthielt ausschließlich die männliche Berufsbezeichnung (z.B. Geschäftsführer) und ein anderer Teil verwendete sowohl die männliche als auch die weibliche Bezeichnung (z.B. Geschäftsführerin/ Geschäftsführer).

Im Anschluss wurden die Teilnehmenden gebeten die Eignung der Kandidat*innen für die Ausschreibungen zu bewerten. Es zeigte sich, dass die Teilnehmenden der Studie die Eignung von Frauen für die ausgeschriebenen Stellen bei gleicher Qualifikation ausschließlich dann für genauso gut wie die ihrer männlichen Mitbewerbenden einschätzten, wenn der weibliche und männliche Titel in der Ausschreibung genannt wurden (Horvath and Sczesny, 2016).

Aufgeschlagenes Notizbuch mit Stiften

Beispiel 2:

Im Jahr 1992 erforschten Hamilton, Hunter und Smart-Smith die Wahrnehmung von Schuldfähigkeit. Hierfür bildeten sie ein Mock Trial, bestehend aus 72 Erwachsenen. Die Teilnehmenden wurden in drei verschiedene Gruppen unterteilt, denen ein Mordfall vorgelegt wurde. Die Beschreibung stimmte für alle drei Gruppen überein, mit der Ausnahme, dass die angeklagte Person jedes Mal mit einem anderen Pronomen betitelt wurde: „er“, „er oder sie“ oder „sie“. Die Teilnehmen- den wurden anschließend gebeten einzuschätzen, ob es sich bei dem Fall um Notwehr handeln könnte oder nicht.

Nach Angaben von Stahlberg et al. (2007) berichtet das Forschungsteam, dass die Teilnehmenden am wenigsten dazu bereit waren bei der männlichen Person Notwehr anzuerkennen. Es zeigte sich somit, dass die gleiche Situation unterschiedlich betrachtet wird, je nachdem welche Personen daran beteiligt sind, verschiedene Geschlechtergruppen werden auf unterschiedliche Weise als schuldfähig oder gefährlich wahrgenommen.

Empfehlungen für die Verwendung geschlechtergerechter Formulierungen im Fragebogen

Beispiel:

Die ausschließliche Verwendung der männlichen Bezeichnung kann dazu führen, dass bestimmte Begriffe von den Befragten ausschließlich mit Männern verbunden werden. Das Wort Arzt assoziieren viele Menschen beispielsweise direkt mit einem Mann im weißen Kittel. Häufig gehen mit dieser Assoziation auch bestimmte Stereotype einher. Dies gilt es zu vermeiden. Es empfiehlt sich an dieser Stelle durch das Gendern weitere Geschlechterkategorien einzuschließen.

Beispiel:

Die Abfrage der Aufteilung von Tätigkeiten im Haushalt ist eine beliebte Methode um Rollenverteilungen in Partner*innenschaften zu erfassen. Allerdings erlauben es viele Fragemodule den Teilnehmenden ausschließlich anzugeben, ob die entsprechenden Tätigkeiten von der Frau oder vom Mann verrichtet werden.  

In unserer Gesellschaft existieren allerdings viele verschiedene Lebensrealitäten und Beziehungsmodelle. Die ausschließliche Unterteilung in Mann und Frau  in einem Fragebogenmodul würde den Eindruck erwecken, dass es ausschließlich heterosexuelle Paare gibt. Allen Teilnehmenden, die sich in anderen Partner*innenschaften befinden, ist es unmöglich diese Frage zu beantworten. Besser wäre es hier nicht zwischen „Frau“ und „Mann“, sondern zwischen „Ich“ und „mein*e Partner*in(nen)“ zu unterscheiden, um allen Teilnehmenden zu ermöglichen, diese Frage zu beantworten.

Beispiel:

Bei Befragungen, die sich mit Familien- und Haushaltskonstellationen beschäftigen, wird auch das Haushaltseinkommen abgefragt. In diesem Zusammenhang findet sich häufig die Formulierung „Hauptverdiener“. Der Begriff „Hauptverdiener“ ist nicht nur ein generisches Maskulinum, sondern hängt häufig noch eng mit einem Familienbild zusammen, in dem eine Person, für gewöhnlich der Mann, für das gesamte Haushaltseinkommen verantwortlich ist. Eine solche Aufteilung der Aufgaben im Haushalt ist nicht mehr zeitgemäß und bildet die tatsächliche Vielfalt möglicher Konstellationen nicht angemessen ab.

Zu empfehlen ist es an dieser Stelle abzufragen, wie viele Personen zum Haushaltseinkommen beitragen und für jede dieser Personen gesondert die Informationen von Interesse zu erfassen. Insbesondere computerassistierte Befragungen bieten hierbei die Möglichkeit den Fragebogen automatisch anzupassen.


Zitierte Literatur

Bauer, G.R., Braimoh, J., Scheim, A.I., Dharma, C., 2017. Transgender-inclusive measures of sex/gender for population surveys: Mixed-methods evaluation and recommendations. PLoS ONE 12, e0178043. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0178043

Bogner, K., Landrock, U., 2014. Antworttendenzen in standardisierten UmfragenAntworttendenzen in standardisierten Umfragen. SDM Survey Guidelines. https://doi.org/10.15465/SDM-SG_016

Bolte, G., Jacke, K., Groth, K., Kraus, U., Dandolo, L., Fiedel, L., Debiak, M., Kolossa-Gehring, M., Schneider, A., Palm, K., 2021. Integrating Sex/Gender into Environmental Health Research: Development of a Conceptual Framework. International Journal of Environmental Research and Public Health 18, 12118. https://doi.org/10.3390/ijerph182212118

Committee on Measuring Sex, Gender Identity, and Sexual Orientation, Committee on National Statistics, Division of Behavioral and Social Sciences and Education, National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine, 2022. Measuring Sex, Gender Identity, and Sexual Orientation. National Academies Press, Washington, D.C. https://doi.org/10.17226/26424

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