Embodiment

Unter Embodiment wird das Zusammenwirken sozialer und biologischer Prozesse verstanden, die in Wechselwirkung den Körper formen und die Gesundheit beeinflussen. Das bedeutet in Bezug auf das Geschlecht, dass es zwar einerseits sinnvoll ist, die sozialen und biologischen Dimensionen von Geschlecht zu unterscheiden, andererseits aber ihre gegenseitigen Wechselwirkungen berücksichtigt werden müssen (Bolte et al., 2021; Krieger, 2005).

Beispiel 1:

Als Beispiel kann die Gehirnforschung aufgeführt werden. Hier wird vielfach von dem Befund gesprochen, dass die Gehirne von Männern und Frauen z.B. in Bezug auf räumliches Denkvermögen oder Sprachkompetenz geschlechtsspezifisch unterschiedlich ausgeprägt seien. Doch zum einen können Kompetenztests diese Behauptung einer binären Unterscheidung in männliche und weibliche Befähigungen nicht bestätigen. Zum anderen zeigen physiologische Untersuchungen, dass Gehirne sich zeitlebens verändern und den Erfordernissen, mit denen sie konfrontiert werden, anpassen (Schmitz, 2006). Demnach entstehen geschlechtsgebundene Gehirnausprägungen durch das Wechselspiel von endokrinologischen und hirnphysiologischen Vorgängen einerseits und Erfahrungen bzw. Alltagspraktiken andererseits. Studien zeigen, dass z.B. schon mit Neugeborenen unterschiedlich umgegangen wird, je nachdem, ob es sich um männliche oder weibliche Kinder handelt, was Auswirkungen auf neuronale Entwicklungen hat (Fausto-Sterling et al., 2012).

Beispiel 2:

Fausto-Sterling führt ein weiteres Beispiel an. Sie beschreibt, dass körperliche Aktivität, die Exposition gegenüber Sonnenlicht und das Ernährungsverhalten Einfluss auf die Knochenphysiologie und da- durch Auswirkungen auf die Knochendichte haben.  Die in einer Gesellschaft vorherrschenden Geschlechterrollen beeinflussen, wie sich die verschiedenen Geschlechtergruppen ernähren, welchen körperlichen Aktivitäten sie nachgehen und wie viel Zeit sie, bei- spielsweise durch ihre Arbeit, dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Unterschiedliche Risiken für Knochenbrüche und die Entwicklung von Knochenerkrankungen, wie beispielsweise Osteoporose, zwischen den Geschlechtern kann somit auch auf diese sich voneinander unterscheidenden Rollenbilder (in Kombination mit anderen sozialen Faktoren) zurückgeführt werden (Fausto‐Sterling, 2005).   

Der Körper bildet sich also im Wechselspiel aus biologischen Gegebenheiten und sozialen Einflüssen und Geschlechterunterschiede “seeming to arise ‘naturally’, but in fact being a biosocial sediment built up over a lifetime.” (Fausto-Sterling 2019: 6).

Nachgewiesene körperliche Unterschiede zwischen verschiedenen Geschlechtern sollten also aus Sicht des Embodimentansatzes nicht vorschnell als Evidenz für naturgegebene determinierte Unterschiede interpretiert werden. Vielmehr sollte nach den bio-sozialen (also zu- sammenwirkenden biologischen und sozialen) Prozessen gefragt werden, die diese Unterschiede hervorbringen.

Weiße Sprechblase auf grauem Grund
Stefan Schweihofer/ Pixabay

 

„Embodiment is a promising concept for analysing how sex and gender become interwoven as part of life, but health researchers seldom address the different usages and meanings of the concepts.“

(Hammarström et al. 2013, p. 185)


Zitierte Literatur

Bolte, G., Jacke, K., Groth, K., Kraus, U., Dandolo, L., Fiedel, L., Debiak, M., Kolossa-Gehring, M., Schneider, A., Palm, K., 2021. Integrating Sex/Gender into Environmental Health Research: Development of a Conceptual Framework. International Journal of Environmental Research and Public Health 18, 12118. https://doi.org/10.3390/ijerph182212118

Fausto‐Sterling, A., 2005. The Bare Bones of Sex: Part 1—Sex and Gender. Signs: Journal of Women in Culture and Society 30, 1491–1527. https://doi.org/10.1086/424932

Fausto-Sterling, A., Coll, C.G., Lamarre, M., 2012. Sexing the baby: Part 2 applying dynamic systems theory to the emergences of sex-related differences in infants and toddlers. Social Science & Medicine 74, 1693–1702. https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2011.06.027

Krieger, N., 2005. Embodiment: a conceptual glossary for epidemiology. Journal of Epidemiology & Community Health 59, 350–355. https://doi.org/10.1136/jech.2004.024562

Schmitz, S., 2006. Frauen- und Männergehirne. Mythos oder Wirklichkeit?, in: Ebeling, S., Schmitz, S. (Eds.), Geschlechterforschung Und Naturwissenschaften. Einführung in Ein Komplexes Wechselspiel. VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden, pp. 211–234.