Entwicklung der Toolbox
Von 2020 bis 2023 wurde im Rahmen des Forschungsprojekts DIVERGesTOOL eine Toolbox zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt in der quantitativen Gesundheitsforschung entwickelt. Der gesamte Entwicklungsprozess erfolgte in kontinuierlicher Zusammenarbeit eines interdisziplinären Projektteams bestehend aus Forschenden der Fachdisziplinen Public Health/ Epidemiologie, Gender Studies und Gender Medizin. Die Entwicklung der hier vorgestellten Toolbox erfolgte in mehreren Schritten:
1. Überblick über aktuell angewendete Instrumente
Mit dem Ziel, einen besseren Überblick über die aktuell in der gesundheitsbezogenen Forschung angewendeten Erhebungsinstru- mente zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt und den diesen zu Grunde liegenden Geschlechterkonzepten zu erhalten, wurde in einem ersten Schritt ein Scoping Review durchgeführt. In den drei Datenbanken Scopus, Web of Science und Medline konnten von 9935 Treffern 170 relevante Studien mit 77 verschiedenen Instrumenten identifiziert werden, die von 2000 bis 2020 zur Operationalisierung von geschlechtlicher Vielfalt für Gesundheitsfragestellungen eingesetzt wurden. Die identifizierten Instrumente wurden beschrieben und aus einer gendertheoretischen und gesundheitswissenschaftlichen Perspektive heraus evaluiert (Siehe Horstmann et al. 2022).
2. Erarbeitung eines Konzeptes für grundlegende Dimensionen von Geschlecht mit Relevanz für die Erfassung in populationsbezogenen Gesundheitsstudien
Aufbauend auf dem bisherigen Forschungsstand und den im ersten Arbeitsschritt gewonnenen Erkenntnissen wurde im zweiten Schritt ein Geschlechterkonzept erarbeitet. Als Grundlage dienten hierfür insbesondere vier Publikationen (Bauer et al. 2017, Bolte et al. 2021, Heise et al. 2019, Nielsen et al. 2021).
Auf dieser Basis wurden grundlegende Dimensionen von Geschlecht, die generell in populationsbezogenen Gesundheitsstudien berücksichtigt werden sollten, identifiziert und grafisch dargestellt. Dieses Konzept bildet die Basis für die nachfolgende Instrumentenentwicklung.
3. Etablierung eines Stakeholder-Netzwerks
Für die Toolbox ist insbesondere die Perspektive der potentiellen zukünftigen Nutzer*innen von Relevanz. Aus diesem Grund wurde der gesamte Entwicklungsprozess partizipativ gestaltet und Ansprechpartner*innen und Koordinator*innen von großen epidemiologischen Kohortenstudien in Deutschland direkt an dem Entwicklungsprozess beteiligt. Als Expert*innen kennen sie die Herausforderungen und Anforderungen großer Kohortenstudien am besten und können die Einsetzbarkeit und Nutzer*innenfreundlichkeit der Items direkt aus einer Anwendungsperspektive heraus bewerten. Für die Studie wurde ein Stakeholder-Netzwerk bestehend aus zehn Expert*innen von insgesamt acht Studien in Deutschland etabliert. Die Zusammenarbeit erfolgte vor allem im Rahmen von Workshops, darüber hinaus in Form von Einzelgesprächen und schriftlichen Kommentierungen sowie der Diskussionen bei der Abschlussveranstaltung.
4. Bedarfserfassung
In Vorgesprächen, die mit den Stakeholdern und jeweils zwei Mitgliedern aus dem Forschungsteam geführt wurden, konnten zunächst die Bedarfe und Herausforderungen der einzelnen Studien in Bezug auf die Erhebung geschlechtlicher Vielfalt erfasst werden. Bei einem ersten gemeinsamen Online-Workshop wurden die Ergebnisse der systematischen Übersicht zu aktuellen Erhebungsmethoden zur Erfassung verschiedener geschlechtlicher Dimensionen vorgestellt. Hierauf aufbauend wurden gemeinsam Kriterien für Instrumente zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt zusammengestellt und diskutiert (Kriterien für Instrumente).
5. Partizipative Entwicklung von Fragebogen-Items für populationsbezogene Gesundheitsstudien
Aufbauend auf der systematischen Übersicht und dem Konzept aus den ersten beiden Arbeitsschritten wurden in einem nächsten Arbeitsschritt Methoden und Instrumente zur Erfassung geschlechtlicher Vielfalt in Gesundheitsstudien entwickelt. Die Entwicklung verlief in Form eines mehrstufigen Verfahrens:
Basis-Items
Zunächst wurden grundlegende Fragenkomplexe für die Erfassung von Geschlecht in Gesundheitsstudien entwickelt (Basis-Items). Ziel war es Items zu entwerfen, die unabhängig von Fragestellung und Studiendesign allgemein einsetzbar sind für eine valide Erhebung von Geschlecht in epidemiologischen Studien. Beim 2. Workshop im Frühjahr 2022 wurde den Stake- holdern ein erster Entwurf der Basis-Items vorgestellt, die im Workshop gemeinsam weiterentwickelt wurden.
Zusatz-Items
Für die verschiedenen Fragestellungen und Studienpopulationen sind unterschiedliche Dimensionen von Geschlecht relevant. Beim 3. Workshop im Sommer 2022 wurden zunächst gemeinsam potentielle Themen, Fragestellungen und Zielpopulationen für die Zusatz-Items gesammelt. Basierend auf diesen Ergebnissen wurden spezifische Methoden zur Erfassung einzelner Teilaspekte von Geschlecht entworfen (Zusatz-Items). Beim 4. gemeinsamen Workshop folgte die Vorstellung, Diskussion und die anschließende Weiterentwicklung der Items.
Zusammenführung der Toolbox
Die neu entwickelten Basis- und Zusatz-Items wurden in einer Toolbox zusammengeführt und um ausführliche Nutzungsinformationen ergänzt. Im Verlauf des partizipativen Entwicklungsprozesses wurden zudem einige weiterführende Aspekte thematisiert. Diese wurden dokumentiert und in Form von Zusatzinformationen in die Toolbox aufgenommen.
Vertretungen des Bundesverbands trans* und des Vereins für intergeschlechtliche Menschen e.V. wurden dazu eingeladen, die Items aus ihrer Perspektive heraus zu bewerten. In gemeinsamen Gesprächen wurden die Items diskutiert und konnten darauf aufbauend weiter angepasst werden.
6. Fertigstellung und Veröffentlichung
Die erste vollständige Version der Toolbox wurde im Juni 2023 bei der Abschlussveranstaltung des Forschungsprojektes vorgestellt (DIVERGesTOOL Abschlussveranstaltung). Eingeladen waren neben den Mitwirkenden aus dem Stakeholder-Netzwerk auch interessierte Akteur*innen aus Wissenschaft, Praxis, Forschungsförderung, Politik und Gesellschaft sowie das Bundesministerium für Gesundheit als Förderer dieses Forschungsprojekts. Im Rahmen der Veranstaltung wurden nicht nur unmittelbare Ergebnisse des Projekts und ihre potentielle Nutzung vorgestellt, sondern diese zudem in einen breiteren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs eingebunden und diskutiert.
Die Toolbox wurde nach der Abschlussveranstaltung überarbeitet. Nach Abschluss des Projekts steht die Toolbox Interessierten weiterhin auf der Projekt-Website zur Verfügung.
Zitierte Literatur
Bauer, G.R., Braimoh, J., Scheim, A.I., Dharma, C., 2017. Transgender-inclusive measures of sex/gender for population surveys: Mixed-methods evaluation and recommendations. PLoS ONE 12, e0178043. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0178043
Bolte, G., Jacke, K., Groth, K., Kraus, U., Dandolo, L., Fiedel, L., Debiak, M., Kolossa-Gehring, M., Schneider, A., Palm, K., 2021. Integrating Sex/Gender into Environmental Health Research: Development of a Conceptual Framework. International Journal of Environmental Research and Public Health 18, 12118. https://doi.org/10.3390/ijerph182212118
Heise, L., Greene, Margaret E, Opper, N., Stavropoulou, M., Harper, C., Nascimento, M., Zewdie, D., Darmstadt, G.L., Greene, Margaret Eleanor, Hawkes, S., Heise, L., Henry, S., Heymann, J., Klugman, J., Levine, R., Raj, A., Rao Gupta, G., 2019. Gender inequality and restrictive gender norms: framing the challenges to health. The Lancet 393, 2440–2454. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(19)30652-X
Nielsen, M.W., Stefanick, M.L., Peragine, D., Neilands, T.B., Ioannidis, J.P.A., Pilote, L., Prochaska, J.J., Cullen, M.R., Einstein, G., Klinge, I., LeBlanc, H., Paik, H.Y., Schiebinger, L., 2021. Gender-related variables for health research. Biology of Sex Differences 12, 23. https://doi.org/10.1186/s13293-021-00366-3