Jan Metzger
Grußwort
Sehr geehrte Damen und Herren,
in meiner Branche gilt es inzwischen als eine Binsenweisheit – ohne dass schon alle ihre Konsequenzen daraus gezogen hätten: Das Netz verändert alle klassischen Medien fundamental. Das Geschäftsmodell Publizieren löst sich allmählich auf. Aus Publizieren beziehungsweise bei uns in den elektronischen Medien aus Senden werden durch die neuen Möglichkeiten des Netzes zunehmend Kommunikation und Dialog. Das hat weitreichende Folgen. Wir sollten uns dabei immer eines bewusst machen: Von dieser Geschichte kennen wir bisher nur den Anfang, denn das Internet ist blutjung, gerade erst 20 Jahre alt. Seine Geschichte hat erst begonnen – das allerdings furios und von Anfang an begleitet von tiefgreifenden Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft. Niemand weiß, wohin genau uns diese Geschichte führen wird. Die großen Fragen für uns Medien-Macherinnen und -Macher sind: Was bedeuten diese Veränderungen für klassische Medien? Für traditionelle Geschäftsmodelle? Für journalistische Inhalte?
Zunächst einmal das Offensichtliche: Mit dem Internet sind in den Medien neue Geschäftsmodelle entstanden, die über Nacht einen beachtlichen Erfolg gefunden haben. Hier einige wenige Beispiele: Die Huffington Post war keine zehn Jahre nach ihrer Gründung unter den ersten 15 News- und Media-Websites weltweit, noch vor CNN und der New York Times. Und sie war die Nummer 1 aller Online-News-Websites in den USA. Sie ist eine dieser Publikationen neuen Typs: Ein Drittel ihres Traffics kommt über Soziale Medien (davon fast 90 Prozent über Facebook). Um ihre Reichweite zu steigern, setzt sie vor allem auf Boulevard-Themen. Sie hat aber 2012 als erstes Online-Medium überhaupt auch einen Pulitzer-Preis gewonnen für eine Geschichte über verwundete US-amerikanische Kriegsveteranen („Beyond the Battlefield“).
BuzzFeed liegt weltweit unter den Top 30 aller News- und Media-Websites, noch vor dem renommierten Guardianund den großen Fox News. Bei BuzzFeed stehen die Sozialen Medien gleich am Anfang des Produktionsprozesses: Geschrieben und programmiert wird strikt zur Optimierung von Click- und Share-Raten. Folgerichtig kommen 50 Prozent des Traffics über Soziale Medien. BuzzFeed setzt auf den sprichwörtlichen Cat Content– abgeleitet von den im Netz äußerst beliebten Katzen-Bildern und -Videos, die sich viral besonders gut verbreiten. Der Großteil der Artikel bei BuzzFeed istuser generated, also von den Nutzerinnen und Nutzern gemacht, doch wächst der Anteil eigener Geschichten zu großen Themen wie Ukraine, Syrien, Ebola oder IS. Bemerkenswert ist das journalistische Selbstverständnis von BuzzFeed wie es Scott Lamb, dem Vice President International, zugeschrieben wird: Journalismus funktioniere wie ein gutes Kneipengespräch. Es werde viel Quatsch geredet und Klatsch verbreitet – es würden aber eben auch Tipps, Nachrichten, politische Meinungen und ernste Themen ausgetauscht. Das klingt erst einmal weder unattraktiv noch unsympathisch.
Vice.com war einmal ein Stadtmagazin in Montreal und ist heute ein weltweit operierender Medien-Konzern: Außer in Afrika und in der Antarktis ist Vice inzwischen auf allen Kontinenten vertreten. Die Firma gibt immer noch ein Hochglanzmagazin (in 17 Sprachen) heraus, betreibt Websites, einen YouTube-Channel mit drei Millionen Abonnentinnen und Abonnenten, produziert Filme, betreibt ein Platten-Label, einen Verlag und neuerdings auch einen Fernsehsender. Das Besondere an Vice ist seine Zielgenauigkeit. Bei Vice sind die Expertinnen und Experten für die Generation Y (20 bis 30 Jahre), dort weiß man, was die Millenials medial suchen: Die krasseste Story – mittendrin statt nur dabei! – gerne gewürzt mit Themen wie Krieg, Sex und Drogen. Vice kultiviert und beherrscht eine subjektive und emotionalisierte Erzählweise und unterscheidet sich genau darin von etablierten Medien. Was eine gute Story sei? „Einfachheit, ein Aufhänger und ein Schlag ins Gesicht“, so Vice-Geschäftsführer Shane Smith.
Vice.com, BuzzFeed und Huffington Post – drei neue journalistische Geschäftsmodelle im Internet, die es im Kampf um die Aufmerksamkeit und die knappe Zeit der Medien-Nutzerinnen und -Nutzer schnell an die Spitze geschafft haben. Was ist das Muster dieses Erfolgs? Neue Geschäftsmodelle in den Medien haben bestimmte Eigenschaften gemeinsam. Sie funktionieren.
- mobil: Die Angebote sind optimiert für die mobile Nutzung und nicht mehr an ein stationäres Empfangsgerät gebunden.
- on demand: Sie funktionieren auf Abruf (englisch on demand). Nicht mehr der Anbieter kontrolliert, wann was genutzt wird, sondern die Nutzerinnen und Nutzer selbst.
- personalisiert: Die Dienste sind auf individuelle Nutzer-Interessen zugeschnitten – one size fits all ist Vergangenheit.
- sozial: Diese Geschäftsmodelle basieren auf dem Vertrieb über Soziale Medien. Die Verbreitung funktioniert nicht mehr von Punkt zu Punkt, sondern viel wirksamer, weil zielgenauer über Netzwerke.
- viral: Die Anbieter kontrollieren insofern auch nicht mehr die Distribution. Bestimmend wird die virale Qualität von Inhalten.
- dialogisch: Indem sie die Nutzerinnen und Nutzer in Produktion und Verbreitung einbeziehen, stiften diese Medien einen Dialog – sie sind nicht mehr wie eine klassische Publikation Monologe in nur eine Richtung.
Während die Konkurrenz mit sinkenden Auflagen und fallenden Werbeeinnahmen zu kämpfen hat, explodieren die Nutzerzahlen und damit die Einnahmemöglichkeiten von Medien wie BuzzFeed, Huffington Post und Co. Ihr Motor sind die sozialen Netzwerke und die virale Verbreitung. Das verändert das bisherige Prinzip von Medien: Zunehmend weniger sind es Journalistinnen und Journalisten, die über die Veröffentlichung von Inhalten bestimmen. Stattdessen werden Soziale Medien und ihre Algorithmen zu mächtigen Ko-Distributoren von Inhalten.
Diesen Trend kann man schon messen. Zahlen des Branchenverbandes Bitkom vom November 2015 zeigen, dass heute schon rund jeder fünfte Internetnutzer beziehungsweise jede fünfte Internetnutzerin (22 Prozent) in Deutschland in soziale Netzwerke geht, um sich über das aktuelle Geschehen zu informieren. Bei den 14- bis 29-Jährigen sind es 32 Prozent, bei den über 65-Jährigen erst zwei Prozent. Fast die Hälfte nutzt dafür Facebook, gefolgt von Xing und Twitter (knapp ein Drittel) und YouTube. Damit zeichnet sich ab, dass Journalistinnen und Journalisten aufhören, die exklusiven Gatekeeper zu sein, die über die Publikation von Inhalten entscheiden. Was wiederum eine bedeutende Rollenveränderung für uns, die klassischen Medien ist.
Was sind aber die Ursachen für diesen Medienwandel? Jedenfalls sind nicht wir selbst, die Medien, die Ursache für diese Veränderungen. Die Medien wurden vielmehr sehr früh, als eine der ersten Branchen von einem viel breiteren und viel tieferen Veränderungsprozess ergriffen. Wenn man sich der Sache im Helikopter-Flug von oben nähert, dann kann man drei unterschiedlich große Blickfelder auf ein und dasselbe Phänomen wählen: Erstens den großen Ausschnitt: technologischer Wandel, zweitens den etwas kleineren: ökonomischer Wandel und schließlich drittens den Ausschnitt: Medienwandel. Dieser letzte ist eine Teilmenge von sehr viel größeren Veränderungsprozessen. Über diese Prozesse werden zahllose wissenschaftliche Forschungsarbeiten und noch mehr Bücher geschrieben. Hier nur eine raue, knappe Skizze, um die Argumentation zu illustrieren:
Erstens – der technologische Wandel: Das Netz ist auf dem Weg zur globalen, ubiquitären Wirtschaftsplattform. Global nutzen inzwischen drei Milliarden Menschen das Internet – das entspricht 41 Prozent der Weltbevölkerung. Noch mehr Menschen haben heute schon einen Mobilfunkanschluss: Aktuell gibt es weltweit rund 3,6 Milliarden Mobil-Nutzerinnen und -Nutzer, das ist bereits die Hälfte der Menschheit. Sie können und werden zunehmend damit das Netz nutzen.
Zweitens – der ökonomische Wandel, denn der technologische Wandel zieht tiefgreifende wirtschaftliche Veränderungen nach sich. Das Netz hat damit begonnen, wirtschaftliche Beziehungen neu zu prägen: Es begann mit Amazon und es ging weiter mit Uber und AirBnB. Inzwischen haben zahllose internet-basierte Handelsplattformen die Art verändert, wie Geschäfte gemacht werden. Sie mischen ganze Branchen auf. Dazu treibt das Internet der Dinge die Automatisierung rasant voran und schafft über die Vernetzung von Maschinen und anderen Gegenständen neue Produktionsprozesse und Geschäftsmodelle. Wer kann sagen, ein wie großer Teil der industriellen Fertigung in den kommenden Jahren von 3D-Druckern erledigt wird? Karl Marx und Friedrich Engels hätten gesagt: „Es sind die Produktivkräfte, stupid!“ Das Internet greift in der Tat tief in die Fortentwicklung der Produktivkräfte ein und damit in die Produktion von fast allem und jedem. Oder wie es einer der Heutigen lässig gesagt hat, Oliver Samwer, einer der Gründer von Jamba und Zalando: „Geschäfte sind Mittelalter. Sie wurden nur gebaut, weil es damals kein Internet gab.“
Drittens – der Medienwandel: Der technologische und der ökonomische Wandel sind die Ursachen für die Veränderungen in der Produktion und in der Distribution auch von Medien. Oder anders herum: Was wir in den Medien sehen, sind die Folgen größerer technologischer und wirtschaftlicher Veränderungen.
Durch die Einführung digitaler Produktionsweisen und mit dem Netz sind die Zugangsbarrieren zur Medienproduktion – Produktionstechnik, Verbreitungsinfrastruktur und das dafür notwendige Geld – praktisch verschwunden. „Man kann so viele Menschen wie noch nie erreichen und braucht dabei so wenig Produktions- und Kapitalmittel wie noch nie“, formuliert es der Geschäftsführer der Verlagsgruppe Handelsblatt Gabor Steingart. Bei uns in den elektronischen Medien beispielsweise war es bis vor ein paar Jahren noch unmöglich, Live-Bilder ohne große und teure technische Anstrengungen wie den Einsatz von TV-Übertragungswagen oder einer komplexen Sende-Infrastruktur auf die Bildschirme zu bringen. Heute reicht dazu im Prinzip eine Handy-App. Dieses Prinzip verändert die Medienbranche – ablesbar daran, wie auf dem Internet basierende Publikationsmodelle praktisch über Nacht neue Imperien schaffen und klassische Medien-Unternehmen überholen.
Es fehlt nicht an steilen Thesen, wohin diese Veränderungen die Medien-Industrie führen:
„Massenmedien sind eine temporäre Anomalie,“ sagt zum Beispiel John Standage, der für den britischen Economist schreibt: Die Medien-Industrie gebe es überhaupt nur, weil seit dem
19. Jahrhundert Medien nur mittels teurer Maschinen ein breites Publikum erreichen konnten. Dafür konnten die Unternehmen von den Werbetreibenden dann Geld für den Zugang zum Publikum verlangen beziehungsweise vom Publikum Geld für ihre Produkte. Durch das Internet könne heute jeder, zumindest theoretisch, ein großes Publikum sehr günstig erreichen. Die Medien-Industrie gerate deshalb zunehmend in Schwierigkeiten, denn sie basiere auf der Kontrolle von etwas, das heute viel freier verfügbar sei. Zu ihrer Zeit habe sie ihre Funktion gehabt, heute unter den neuen Bedingungen nicht mehr – also gehe eine „temporäre Anomalie“ ihrem Ende entgegen. Und wir können gerade dabei zusehen.
Oder Jeff Jarvis, der Autor des Branchen-Bestsellers „Was würde Google tun?“: „Es gibt schon heute eigentlich keine Massenmedien mehr“. Die gedruckte Nachricht löse sich im Internet auf: Die eigentliche News laufe zuerst über Twitter. Den Hintergrund einer Geschichte könne man heute auf Wikipedia oder auch bei Vox Media nachlesen. Wofür also auf eine Zeitung warten?
Dazu komme: (Medien-)Konsumentinnen und Konsumenten seien heute keine Masse mehr, sondern individuell adressierbare Wesen. Google, sagt Jarvis, habe das verstanden: „Google weiß, wo ich arbeite und wo ich wohne. Meine Tageszeitung weiß das nicht. Darum behandelt sie mich immer noch wie den Teil einer Masse.“ Gleichzeitig zwinge die individuelle Adressierbarkeit die Medien auch zum Dialog mit ihren Nutzerinnen und Nutzern: „Wir dürfen den Menschen nicht mehr etwas vorsetzen – wir müssen ihnen zuhören“, so Jarvis. Medien müssten Plattformen werden, auf denen sich Menschen austauschen. Das jedenfalls ist nicht mehr das, was die alten Massenmedien einmal waren.
Ob es schon so ist oder ob es noch so kommen wird, darüber kann man natürlich streiten. Deutlich sind in dem ganzen chaotischen und spontanen Geschehen des Medienwandels jedenfalls einige klare Muster zu erkennen: Alles, was digital werden kann, wird digital. Und alles, was digital wird, wird mobil.
In diesem neuen Öko-System gelten neue Gesetze: Es wird anders produziert – die Geschäftsmodelle von Presse und Rundfunk verlieren ihre Gültigkeit. Nur klassische Medien, die sich den neuen Gesetzen öffnen, werden überleben. Und es wird anders distribuiert – weil sich die Kommunikation zwischen Medien und Nutzerinnen und Nutzern grundlegend ändert. Aus einer 180-Grad-Kommunikation im Broadcast-Modus („Wir senden – Ihr empfangt“) wird zunehmend eine 360-Grad-Kommunikation im Sinne von Dialog und Konversation. Klassische Medien, die sich dieser Veränderung öffnen, werden besser, kommen näher an ihre Kundinnen und Kunden – und sie werden verändert überleben. Die anderen, die den Kopf in den Sand stecken, sind früher oder später aus dem Geschäft.
Wie sich Technologie und Wirtschaft verändern, das haben wir als Medien nicht in der Hand. Wie wir selbst uns unter diesen sich rasch verändernden Bedingungen verhalten, das bestimmen wir. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns verändern müssen, wenn wir uns treu bleiben wollen: Wenn wir den Qualitäts-Journalismus retten wollen, jene wahrscheinlich einzigartige Medienlandschaft, die wir in Deutschland haben. Wenn wir uns nicht verändern, werden wir nicht überleben, sondern im Museum enden – wie schon so viele andere Industrien vor uns.