Emergenz und Emergente Begriffe

Die Chemie hat in besonderem Ausmaß mit emergenten Eigenschaften zu tun. Emergente Eigenschaften sind solche Eigenschaften, die erst zutage treten, wenn mehrere Einzeldinge in bestimmter Weise zusammenkommen, die aber auch nicht ohne weiteres auf jene Einzeldinge reduzierbar sind. Beispielsweise lässt sich nicht von einem einzelnen Wassermolekül sagen, es sei flüssig oder gefroren – dafür braucht es einen Verbund von Molekülen, die in bestimmter Weise interagieren. Weil die Chemie nicht einzelne Atome oder Moleküle studiert, sondern ihre Interaktion, ist der Begriff der Emergenz für die Chemie interessant und kann dort nicht nur gedankliche Unterscheidungen ermöglichen, sondern auch in der didaktischen Vermittlung chemischer Inhalt hilfreich sein.

In einem ersten Schritt dieses Projekts wurden eine Reihe von emergenten chemischen Eigenschaften studiert. Ein Ergebnis war dabei, dass einige Eigenschaften graduell mit zunehmender Anzahl von Partikeln auftreten, andere aber „schlagartig“ an bestimmten Punkten. Beispielsweise treten in Hexameren aus sechs Wassermolekülen zahnradartige Rotationen auf, die bei fünf Molekülen noch nicht möglich sind – ein erster Schritt auf dem Weg zur Flüssigkeit. Einige Eigenschaften treten auch nur an bestimmten Punkten auf – z.B. lassen sich bestimmte „fußballartige“ Verbünde aus Kohlenstoffatomen, sogenannte Fullerene, nur mit 60, 120, 180 usw. Atomen ausbilden. Die Auseinandersetzung mit solchen „Umschlagpunkten“ ist ein vielversprechender Forschungsansatz für die Chemie.

In einem zweiten Schritt werden die philosophischen Konsequenzen aus diesen Beobachtungen beleuchtet. Hier stellt sich die Frage, wie wir unsere Begriffe dieser emergenten Eigenschaften ausbilden. Insbesondere erscheint es so, als ob die graduell emergierenden Eigenschaften uns eine gewisse Freiheit bei der Begriffsbildung lassen, die in anderen Fällen nicht besteht. Hier gibt es mehrere Strategien des Umgangs mit dieser Freiheit. Eine interessante Strategie aus dem naturwissenschaftlichen Bereich zeigt sich beispielsweise im Umgang mit Phasenübergängen (ein graduell emergentes Phänomen): Diese existieren der theoretischen Beschreibung nach genau genommen nur für den Limes von unendlich vielen Teilchen. Diese Eigentümlichkeit der theoretischen Beschreibung lässt sich allerdings als eine gewisse Absicherung der Theorie verstehen, die es uns „locker gesprochen“ immer noch erlaubt, vom Gefrieren oder Auftauen einer endlichen Menge von Teilchen zu reden.

Dieses Projekt wird in Kooperation mit Tim Neudecker aus der Theoretischen Chemie an der Uni Bremen durchgeführt.

 

Literatur:

 

: Prof. Dr. Dr. Norman Sieroka
Prof. Dr. Dr.

Norman Sieroka

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Dr.

Tammo Lossau

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