Kritisches Denken in Lehre und Forschung

"Kritisches Denken in den Wissenschaften" – das klingt wie eine Tautologie! Denn Wissenschaft und Forschung haben es vermeintlich immer mit kritischer Reflektion zu tun. Es wird untersucht und hinterfragt, statt die Dinge einfach so zu nehmen, wie sie scheinen. Oder ist das vielleicht nur ein Ideal? Die tägliche Praxis mag tatsächlich anders aussehen. Zahlreiche Sachzwänge wie etwa ökonomische Belange, Finanzierungs- und Zeitbeschränkungen sowie Druck von den Fachkollegen erschweren es oft, sich kritisch auseinanderzusetzen mit den verwendeten Methoden, den vorausgesetzten Begrifflichkeiten und den gezogenen Schlussfolgerungen.

Ziel dieses Projektes ist es, das Bewusstsein für die Bedeutung kritischen Reflektierens zu erhöhen und dies auch konkret in der universitären Lehre, insbesondere in der Form interdisziplinärer Kursangebote, vorzuleben und umzusetzen. Denn kritisches Denken ist nichts, dass "bloss im Nachhinein" wichtig wäre. Vielmehr ist es ein integraler Bestandteil guter wissenschaftlicher Praxis, weshalb es in der universitären Ausbildung früh und breit gefördert werden sollte. Es sollte von Studierenden konkret eingeübt werden – und dies auch anhand eigener Forschungs- und Qualifikationsarbeiten. Denn kritisches Denken impliziert Selbstkritik und das Bewusstsein für andere Denkweisen. Es ist mehr als blosse Beckmesserei gegenüber den Arbeiten anderer.

Kritische Reflektion dient vor allem auch dazu, die innere Dynamik dessen, was man als Wissenschaftler macht, besser zu verstehen. Egal ob Beschreibung, Messung, Rechnung oder Simulation: immer geht es darum, Dinge vor einem bestimmten begrifflichen Hintergrund und in einem bestimmten Vokabular darzustellen und zu diskutieren – sei es, wenn man Hypothesen oder Theorien aufstellt, Experimente analysiert u.v.m. Sich der Entstehung und Dynamik eines solchen Hintergrunds und Vokabulars bewusst zu sein, kann helfen, die eigene Disziplin voranzutreiben, u.a. indem man an entsprechenden Stellen die relevanten Fragen stellt. Dies ist wichtig, um beispielsweise in den Naturwissenschaften gegen Rückschläge und unerwartete Neuerungen in Experiment und Theoriebildung gewappnet zu sein. Außerdem ist es wichtig für den Austausch nicht nur mit Kollegen, sondern auch in breiteren gesellschaftlichen Kontexten - und dies gerade in Zeiten der sogenannten Digitalisierung, wenn Informationen und Fehlinformationen immer leichter zugänglich werden und wenn Wissenschaftler immer nachdrücklicher aufgefordert werden, Drittmittel zu akquirieren und sich an „Public Science“ und einem universitären „Outreach“ zu beteiligen.

In der Philosophie ist es die Aufgabe der Erkenntnistheorie, nach den Bedingungen unseres Wissens zu fragen. Insbesondere die soziale und die feministische Erkenntnistheorie stellen kritische Fragen nach dem sozialen Einfluss auf das, was wir für wahr und relevant halten und wie wir neue Überzeugungen bilden. Solche Fragen können in die Lehre integriert werden, indem sie als metaphilosophische Reflexion der eigenen Praxis genutzt werden, um die eigenen Methoden und Vorannahmen zu beleuchten, oder indem die Auswahl von Texten und Autor*innen reflektiert wird (siehe auch: Projekt zum Globalen Kanon). Schließlich fragen die Disziplinen auch nach den gesellschaftlichen Auswirkungen wissenschaftlicher Praxis und Ergebnisse.

Beispiele für besondere Lehrformate:

Arbeiten zum Thema: 

  • Niklas Hartmann, Anne C. Thaeder, Jörg Riedel, Maike Piesker, Catherine Herbin, Hannah Mahé Crüsemann und Norman Sieroka (2020): Wer schreibt, bleibt: Schreibübungen und Peer-Reviewing im Tutorium zur Vorlesung "Geschichte der Philosophie", Resonanz (Magazin für Lehre und Studium an der Universität Bremen), Sommersemester 2020, S. 14-19.
  • N. Sieroka, V.I. Otto, G. Folkers (2018): Critical Thinking in Education and Research—Why and How? Guest Editorial, Angewandte Chemie (International Edition) 57, 2018, S. 2-4.
  • N. Sieroka, V.I. Otto, G. Folkers (2018): Kritisches Denken in Lehre und Forschung – warum und wie? Gast-Editorial, Angewandte Chemie 130, 2018, S. 2-4.
  • N. Sieroka (2018): Kritisches Denken fördern in Forschung und Lehre. In: Philosophie aktuell, Blog-Serie des Swiss Portal for Philosophy, 22.10.2018.
  • E. Kut, N. Sieroka, G. Folkers, V.I. Otto (2018): A New Course Fosters Critical Thinking on Pharmaceutical Sciences at ETH Zurich. Latest News, ChemMedChem, Dezember 2018.
  • N. Sieroka (2018): Wie lehrt man kritisches Denken? Interview für den Podcast Kritisches Denken.
  • V.I. Otto, E. Kut, N. Sieroka (2018): Wenn aus Fehlern Fährten werden. Bericht und Interview über "Critical Thinking" in der Lehre in: ETH News, 27.02.2018.
  • G. Schiltz, S. Frédérickx, N. Sieroka (2017): Close Reading of Science Texts with Online Annotations. Proceedings of the 25th International Conference on Computers in Education, ed. by W. Chen et al. New Zealand 2017.
  • M. Hampe, R. Wallny, N. Sieroka (2015): Was Physik-Studierende von Philosophen lernen. Bericht und Interview über "Critical Thinking" in der Lehre in: ETH News, 26.09.2015.
  • M. Hampe, R. Wallny, N. Sieroka (2015): Warum lernen wir das eigentlich? Interview in: Polykum (Studierendenzeitung der ETH), 8/2014-15, Juni 2015, S. 10-12.
  • N. Sieroka (2008): Tückenreiche Analogien. Interview in: connect (Alumni Magazin der ETH), Nr.15, November 2008, S. 8-9.
  • N. Sieroka (2008): Der Urknall regt die Fantasie an: Die Angst vor dem Experiment des CERN. In: Tagesanzeiger, 23.09.2008.
  • N. Sieroka (2008): Das CERN auf den Spuren Gottes? In: Horizonte, 14.09.2008.
  • N. Sieroka (2008): Die Grenzen des Wissens: Religion und Philosophie werden die neusten Forschungen überleben. In: bazkultur (Kulturmagazin der Basler Zeitung), 30.07.2008.

 

: Prof. Dr. Dr. Norman Sieroka
Prof. Dr. Dr.

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Aktualisiert von: J Ludwig