Leibniz, Husserl und die Neurophysiologie

In diesem Projekt werden systematische Zusammenhänge von Wahrnehmung, Bewusstsein und Zeit untersucht. Dabei wird auf Arbeiten von Leibniz und Husserl zurückgegriffen; allerdings nicht aus philologisch-​exegetischen Gründen, sondern um (mit Wittgenstein formuliert) eine "übersichtliche Darstellung" zu gewinnen. Denn die Arbeiten von Leibniz und Husserl haben spätere Diskussionen stark beeinflusst und dienen in vielen Aspekten weiterhin als sinnvolle Orientierung. – Methodisch entspricht dieser Ansatz denjenigen, wie sie von Sellars, Mackie und Strawson im Anschluss an Kant und Locke vertreten wurden.

Ausgehend von Leibniz' Begriff unbewusster Wahrnehmungen (perceptions insensibles) wird gegen einen Begriff von Wahrnehmung argumentiert, der auf bewusste Zustände beschränkt ist. Stattdessen wird Bewusstsein als das Ergebnis eines Anhäufungs-​ und Übergangsprozesses eben dieser perceptions insensibles verstanden. Leibniz skizziert die Details dieses Prozesses ansatzweise mithilfe seiner Begriffe von "unmittelbarer Erinnerung" und des "Appetits", also einer gerichteten Struktur der Wahrnehmung. Dies lässt sich so verstehen, dass bei ihm eine (Vor-​)Form der Intentionalität das konstitutive Element von Bewusstsein bildet. Dieser Ansatz lässt sich über Husserls Analyse des inneren Zeitbewusstseins und dessen Begriffe von Retention und Protention genauer explizieren. Im Gegenzug werden somit wichtige Impulse gewonnen für phänomenologische Untersuchungen am Übergang zum Unbewussten.

Die Diskussionen innerhalb dieses Projekts werden immer auch zurückgebunden an die gegenwärtige Psychophysik und Neurophysiologie. Mit seiner Annahme einer Harmonie – eines Parallelismus oder eines Verhältnis des "Ausdrucks" (expression) zwischen körperlichen und geistigen Zuständen – gibt Leibniz einen interpretatorischen Rahmen vor für mögliche Korrelationen zwischen physiologischen Zuständen und Wahrnehmungszuständen. So können bestimmte Hirnantworten als strukturelle Entsprechungen der perceptions insensibles aufgefasst werden, was u.a. eine Interpretation der Libet-​Experimente erlaubt, die somit ohne direkte Bezugnahme auf den Begriff des freien Willens auskommt.

Anschliessend wird der Parallelismus zwischen Physiologie und Wahrnehmung Zeit weiter expliziert – und zwar über den Begriff der Zeit und Leibniz' Begriff des Ausdrucks. Denn während die konstitutiven Elemente der Wahrnehmung eine modalzeitliche Ordnung begründen, sind physiologische Zustände lagezeitlich geordnet. Wahrnehmungen, nicht aber Hirnzustände, zeichnen sich durch einen genuinen Bezug auf Vergangenes und Zukünftiges auf. Allerdings gibt es ein Ausdrucksverhältnis (im Sinne einer partiellen Strukturerhaltung) zwischen eben diesen modal-​ und lagezeitlichen Verhältnissen.

Publikationen zum Thema:

  • N. Sieroka (2018): Theoretical Construction in Physics: The Role of Leibniz for Weyl's "Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft". Studies in History and Philosophy of Modern Physics 61 (1), pp. 6-17.

  • N. Sieroka (2016): Retrospective Analogies: Means for Understanding Leibniz's Metaphysics. In: "Für unser Glück oder das Glück der Anderen" (Vorträge des X. Internationalen Leibniz-​Kongresses), ed. by W. Li. Olms, Hildesheim, Band IV, pp. 285-​299.

  • N. Sieroka (2015): Leibniz, Husserl, and the Brain. Palgrave Macmillan, Basingstoke.

  • M. Andermann, R. Patterson, M. Geldhauser, N. Sieroka, A. Rupp (2014): Duifhuis Pitch: Neuromagnetic Representation and Auditory Modeling. Journal of Neurophysiology 120 (10), pp. 2616-​2627.

  • N. Sieroka (2011): Neurophenomenology of Hearing: Relations to Intentionality and Time Consciousness. XXII. Deutscher Kongress für Philosophie, open access

  • N. Sieroka (2011): Leibniz' Theorie der Wahrnehmung und ihre aktuelle Relevanz für die Philosophie des Geistes. In: Natur und Subjekt (IX. Internationaler Leibniz-​Kongress), ed. by H. Breger, J. Herbst und S. Erdner. Hannover, pp. 1090-​1099.

  • N. Sieroka (2009): Ist ein Zeithof schon genug? – Neurophänomenologische Überlegungen zum Zeitbewusstsein und zur Rolle des Auditiven. Philosophia Naturalis 46 (2), pp. 213-​249.

  • A. Rupp, N. Sieroka, A. Gutschalk, T. Dau (2008): Representation of Auditory Filter Phase Characteristics in the Cortex of Human Listeners. Journal of Neurophysiology 99 (3), pp. 1152-​1162.

  • N. Sieroka, H.G. Dosch (2008): Leibniz's "Perceptions Insensibles" and Modern Neurophysiology. Studia Leibnitiana 40 (1), pp. 14-​28.

  • N. Sieroka, H.G. Dosch, A. Rupp (2006): Semirealistic Models of the Cochlea. Journal of the Acoustical Society of America (JASA) 120 (1), pp. 297-​304.

  • N. Sieroka (2005): Quasi-​Hearing in Husserl, Levinson, and Gordon. Journal of the British Society for Phenomenology 36 (1), pp. 4-​22.

  • N. Sieroka (2004): Neurophysiological Aspects of Time Perception. Dissertation, Universität Heidelberg.

: Prof. Dr. Dr. Norman Sieroka
Prof. Dr. Dr.

Norman Sieroka

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