Fokusprojekt Sexualitätsgeschichte

Veronika Settele & Lisa Hellriegel

Werbung für Verhütungsmittel, 1913.

Hinter der Norm: Praktiken der Sexualität zwischen Säkularisierung und Verwissenschaftlichung, 1848–1930

Das von Veronika Settele geleitete Forschungsprojekt (2023–2026) untersucht die „hinter der Norm“ liegende Geschichte der Sexualität von der Mitte des 19. bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts in Westeuropa. Die beiden übergreifenden Fragestellungen des Projekts zielen auf veränderte Bindungen an Religion und Konfession und die Auswirkungen der wachsenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Sexualität in Biologie, Psychologie und Medizin auf konkrete Praktiken von Lust, Gewalt und Fortpflanzung. Ziel des Forschungsprojektes ist eine transnationale Wahrnehmungsgeschichte der Sexualität. Die Forschung stützt sich insbesondere auf Gerichts- und Patientenakten sowie Briefe, Tagebücher und Autobiografien.

Forschungsprojekte

Die Säkularisierung der Sexualität in Europa

Lust und Fortpflanzung als Praktiken der Religion in Deutschland und Frankreich, ca. 1850–1930

Veronika Settele untersucht in ihrem Habilitationsprojekt Sexualität als religiöse Praxis in der römisch-katholischen Kirche, den protestantischen Kirchen und dem Judentum zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts und 1930. Deutschland und Frankreich bilden die geographischen Schwerpunkte der Studie, die jedoch weitere transnationale Bezüge in den Blick nimmt und sich als westeuropäische Area Study begreift.

Anhand konkreter Praktiken von Verhütung, Schwangerschaftsabbruch sowie vor-, außer- und ehelicher sexueller Handlungen untersucht das Projekt die Veränderung der Alltagsbedeutung religiöser Lehren und Autoritäten für das Erleben von sexueller Lust und die Gestaltung der Reproduktion. Mit diesem Zuschnitt schließt Settele an die Säkularisierungstheorien des Religionssoziologen José Casanova und des Anthropologen Talal Asad an, die binäre Vorstellungen einer religiösen und zunehmend privaten Sphäre auf der einen und einer säkularen öffentlichen (staatlichen) Sphäre auf der anderen Seite für die Moderne überwanden. Ziel des Forschungsprojektes ist es, eine Wahrnehmungsgeschichte der Sexualität zu rekonstruieren. Im Zentrum steht die Frage, inwiefern Praktiken sexueller Lust und (verhinderter) Fortpflanzung Einfluss auf Frömmigkeit, kirchliche Bindungen und den Glauben selbst ausübten. Dem Projekt liegt, in Anlehnung an Clifford Geertz, ein breites Verständnis von Religion als einem System kultureller Bedeutungen zugrunde, das individuelle Bedürfnisse nach Zuwendung und äußerer Autorität miteinbezieht und über engere Vorstellungen klerikaler Kontrolle und Legitimierung des Nationalstaats im 19. Jahrhundert hinausgeht.  Um den Fokus historischer Untersuchungen zu Sexualität von der normativen Ebene auf die gelebte sexuelle Alltagspraxis zu verlagern, basiert die Studie sowohl auf Ego-Dokumenten wie Briefen, Tagebüchern, Autobiografien und autobiografischen Romane als auch auf Kirchen-, Polizei- und Gerichtsakten, medizinischen Fallgeschichten und Beichtspiegeln auf der Seite obrigkeitlicher Intervention. Dieser Quellenkorpus wird ergänzt durch Kolportageromane, Witzesammlungen, Eheratgeber und Presseberichterstattung für den gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die individuellen Handlungen vollzogen.

Sexualisierte Gewalt in der Stadt

Wandel und Kontinuität der Rechtspraxis zu sexualisierter Gewalt an Erwachsenen in deutschen Großstädten, 1900–1935

Lisa Hellriegel untersucht in ihrem Dissertationsprojekt, welche zeitgenössischen Ideen von Strafe, Recht, Gerechtigkeit und Sexualität die Rechtspraxis zu sexualisierter Gewalt zwischen 1900 bis 1935 prägten. Sie fragt danach, wann sich reformerische Ideen durchsetzten und wann sie scheiterten. Besonderes Augenmerk liegt auf der Stadt als historischem Raum: Welche Vorstellungen vom Leben in der Großstadt wurden in der Rechtspraxis wirksam – beispielsweise die der Stadt als „Sündenpfuhl“? Welchen Einfluss hatte das Wachstum von Großstädten auf die Entstehung sexualisierter Gewalt, durch beengte Wohnverhältnisse oder Orte des Vergnügens? Und welche spezifisch urbanen Öffentlichkeiten ermöglichten polizeiliches Anzeigen und juristisches Verfolgen von sexualisierter Gewalt? Im Zentrum der Untersuchung stehen die freien Städte Hamburg und Bremen sowie die preußischen Großstädte Berlin und Altona. Der zeitliche Zuschnitt nimmt mit Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus drei politische Systeme in den Blick und trägt damit der Feststellung Rechnung, dass soziale Praktiken nur eingeschränkt politischen Zäsuren folgen.

Die Studie basiert auf Gerichtsakten von Strafprozessen zu Tatbeständen sexualisierter Gewalt. Zusätzlich herangezogene Patientenakten erlauben, die zunehmend eugenischen Prinzipien im Umgang mit „Sittlichkeitsverbrechern“ aufzuzeigen. Egodokumente wie Tagebücher, Presserzeugnisse und veröffentlichte Autobiographien ergänzen den Quellenkorpus. Besonderes Augenmerk liegt auf der Ebene der sozialen Praxis. Die Arbeit liegt mit diesem Zuschnitt am Knotenpunkt von Sexualitäts-, Rechts-, und vergleichender Stadtgeschichte.

Die Schließung der Bremer Helenenstraße (Bordellstraße)

Eine lokalhistorische Perspektive auf den Diskurs um Geschlechtskrankheiten und Prostitution, 1920er Jahre

Yeliz Elze untersuchte in ihrer 2023 abgeschlossenen Bachelorarbeit Bremer Quellen zur Schließung der Bordellstraße „Helenenstraße“ in den 1920er Jahren. Die Schließung der Bremer Bordellstraße sowie die republikweite Abschaffung der reglementierten Prostitution wurde seit Beginn der Weimarer Republik unter Politikern, Ärzten und Akteurinnen der Frauenbewegung ausführlich diskutiert. Sie erfolgte 1927 in Form des neuen „Reichsgesetztes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“. Im Fokus der Arbeit steht die Rolle von Frauenrechtlerinnen und Prostituierten als handelnde Akteurinnen im politischen Diskurs um Geschlechtskrankheiten und Prostitution. Die untersuchten Quellen zeigen auf der einen Seite unerwartete Vernetzungen zwischen sexualreformerischen und sittlichkeitsbewegten Frauenrechtlerinnen, die sich für die Schließung der Bordellstraße einsetzten. Auf der anderen Seite den legen sie den politischen Aktivismus der in der Helenenstraße ansässigen Prostituierten offen, die sich gegen die Schließung ihres Gewerberaums auflehnten.

Yeliz Elze studiert im Master „Ungleichheiten in Geschichte und Gegenwart“ an der Universität Bremen und unterstützt Veronika Settele und Lisa Hellriegel als studentische Hilfskraft.

Aktuelles

Zwei neue Publikationen im Projektkontext

Veronika Settele und Lisa Hellriegel haben einen Beitrag über die Bremerin Sophie "Sonny" von Engelbrechten und ihr koloniales Verständnis von Geschlecht und Sexualität für den Sammelband "Stadt der Kolonien" geschrieben. Yeliz Elze hat zentrale Erkenntnisse aus ihrer Bachelorarbeit über den Diskurs um Prostitution und Geschlechtskrankheiten in der Bremer Helenenstraße in einem Aufsatz im Bremischen Jahrbuch (2024) veröffentlicht.

Workshop “Beyond Norms and Categories: Towards a History of Sexual Practices, 1850–1960”

Am 20. und 21. Februar 2024 veranstalteten wir den internationalen Workshop “Beyond Norms and Categories: Towards a History of Sexual Practices, 1850–1960” an der Universität Bremen. Ziel der internationalen Konferenz war, das Jahrhundert vor der sogenannten „sexuellen Revolution“ in den Blick zu nehmen – ohne dieses als Vorgeschichte derselben zu verstehen – und besonderes Augenmerk auf die Geschichte sozialer Praktiken, statt auf die Geschichte sexueller Normen zu legen. Der Workshop war die erste Veranstaltung des Fokusprojekts „Hinter der Norm: Praktiken der Sexualität zwischen Säkularisierung und Verwissenschaftlichung, 1848–1930“.
Der Tagungsbericht von Alina Potempa und Teresa Schenk sowie das Programm sind untenstehend zu finden.

Publikationen im Projektkontext

Yeliz Elze, Prostitution und Geschlechtskrankheiten in der Weimarer Republik. Die Schließung der Bremer Helenenstraße 1925–27, in: Bremisches Jahrbuch 103 (2024), S. 165–182.

Lisa Hellriegel und Veronika Settele, Sophie "Sonny" von Engelbrechten. Bürgerliche Wohltätigkeit und koloniales Engagement, in: Norman Aselmeyer und Virginie Kamche (Hg.), "Stadt der Kolonien". Wie Bremen den deutschen Kolonialismus prägte, Freiburg 2024, S. 96–100.

Lisa Hellriegel und Veronika Settele, Ein europäischer Vergleich sexueller Tatbestände in Straf-, Zivil- und   Ehrgerichtsbarkeit, 1850-1960, in Vorbereitung.

Veronika Settele, Art. Sexualität, in: Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland, in Vorbereitung.

Veronika Settele und Christoph Conrad, Keine Zukunft – keine Kinder? Gebärstreik zwischen Klassenkampf und Klimakrise, im Erscheinen.

Veronika Settele, How to Best Campaign for Sexual Reform: Karl Heinrich Ulrichs, Karl Maria Kertbeny and their Fiery Correspondence in the 1860s, in: History, Sexuality, Law. Verschränkung von Recht und Geschlecht im historischen Kontext, 25.1.2023, https://hsl.hypotheses.org/2090.

Veronika Settele, Rezension zu Rainer Herrn. Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933, Berlin: Suhrkamp 2022, 681 S., in: sehepunkte 23 (2023), https://www.sehepunkte.de/2023/09/37834.html

Veronika Settele, Die Klitoris spielt in der Debatte um Geschlechterordnungen eine zentrale Rolle. Dass kaum ein anderes Organ so folgenreich missverstanden wurde, zeigt die Medizin- und Anatomiegeschichte, in: FAZ 16.9.2023, S. Z 5.

Modern History

News

Zwei neue Publikationen im Projektkontext

Veronika Settele und Lisa Hellriegel haben einen Beitrag für den Sammelband "Stadt der Kolonien" geschrieben. Yeliz Elze hat einen Aufsatz im Bremischen Jahrbuch veröffentlicht.

Workshop “Beyond Norms and Categories: Towards a History of Sexual Practices, 1850–1960” (20./21.2.2024)

Der Workshop zur Geschichte sexueller Praktiken fand im Februar 2024 an der Universität Bremen statt. Der Tagungsbericht von Alina Potempa und Teresa Schenk ist nun erschienen.