Fokusprojekt Frühneuzeitliche Mobilitätengeschichte

Postwagen nach Gotha, Lithografie von Georg Emanuel Opitz, um 1825

Alle an Bord! Ungleiche Mobilitäten, Unterwegssein als Praktik und mobile Räume in der Frühen Neuzeit

Mobilität wurde und wird von Akteur:innen verschiedenen Hintergrunds unterschiedlich erlebt. Während sich die Mobility Studies dieses Phänomens für die Moderne in den letzten zwanzig Jahren verstärkt angenommen haben, fehlen für die Frühe Neuzeit vergleichbare Studien, die sich die methodisch-konzeptionellen Überlegungen dieses interdisziplinären Ansatzes zunutze machen. Das Ziel des Fokusprojektes "Alle an Bord! Ungleiche Mobilitäten, Unterwegssein als Praktik und mobile Räume der Frühen Neuzeit" ist es folglich, das Unterwegssein als Praktik sowie mobile Räume, also öffentliche Verkehrsmittel – Postkutschen, Fluss- und Hochseeschiffe – zu erforschen, die als Intersektionen und Kontaktzonen zwischen ungleichen Mobilen fungierten. Aus einer intersektionalen Perspektive richtet sich das Erkenntnisinteresse darauf, wie verschiedene Differenzmarker bzw. Diversitätsdimensionen, Erfahrungen, Handlungsspielräume sowie Gruppenbildungsprozesse im liminalen „Dazwischen“ beeinflussten. Die Relevanz des Projektes liegt u.a. darin, erstmals bisher mehrfach marginalisierte mobile Akteur:innen, darunter vor allem Frauen und Kinder unterschiedlichen Standes, auf breiter Quellenbasis sichtbar zu machen sowie mobile Räume in ihrer Eigenlogik als social sites in motion zu konzeptionalisieren. Das Projekt setzt sich aus einer Habilitation der Projektleiterin Dr. Sarah Lentz sowie einem aktuell ausgeschriebenen Promotionsprojekt und einem durch die KI-Förderung der Universität Bremen geförderten Projekt zur semi-automatischen Informationsextraktion aus frühneuzeitlichen Fremdenlisten zusammen. 

Forschungsprojekte

Ungleich(heiten) in Bewegung

Eine intersektionale Analyse von Mobilitätsformen, -erfahrungen und -praktiken im frühneuzeitlichen Mitteleuropa

Das Projekt von Sarah Lentz ist im neuen Forschungsfeld der historischen Transitforschung angesiedelt, am Schnittpunkt von Kultur- und Sozialgeschichte. Methodisch-theoretische Anregungen kommen neben den Mobility Studies und der Verkehrsgeschichte vor allem aus der Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung, der historischen Praxeologie und Raumanalyse. Eines der Hauptziele des Projekts ist es, einen Beitrag zu einer umfassenderen und inklusiveren Geschichte frühneuzeitlicher Mobilität, vom beruflichen oder touristischen Reisen bis hin zu Flucht und Migration, zu leisten. In Anlehnung an die theoretischen und methodischen Überlegungen der Mobility Studies liegt dem Projekt der Leitgedanken zugrunde, dass auch die frühneuzeitlichen Mobilitäten nur durch eine inklusive, relationale und transmodale Perspektive verstanden werden können. So stehen Mobilitätsformen, Transportmittel und Akteur:innen sowie ihre Mobilitätsanlässe und -erfahrungen im Zusammenhang zueinander – von Interaktion und Kooperation bis hin zu Konflikt. Während bisherige Studien verschiedene Mobilitätsphänomene (wie die Grand Tour oder Fluchtmigration) getrennt voneinander untersucht haben, konzentriert sich das Projekt gerade auf die Berührungspunkte zwischen diesen Mobilitäten. Im Projekt werden Anlässe, Zugang zu und Restriktionen bezüglich Mobilität, geschlechtsspezifische Mobilitätserfahrungen, Agency und Handlungsspielraum unterwegs sowie Teilhabe an Gruppenbildungsprozessen an Bord öffentlicher Verkehrsmittel auf breiter Basis erforscht. Um solchen Begegnungen sowie mobilen Erfahrungen und Praktiken innerhalb einer von diversen Ungleichheiten gekennzeichneten Gesellschaft nachzuspüren, kommt ein dezidiert intersektionaler Ansatz zur Anwendung. Ziel desselben ist es, zu verstehen, wie sich Diversitätsdimensionen, wie Stand, Race, Geschlecht, Alter, Religion, geographische Herkunft, körperliche Konstitution und (für die Frühe Neuzeit zentral) Ehre überschnittenen, gegenseitig verstärkten und performativ jeweils unterschiedliche Formen von Diskriminierung und Privilegien hervorbrachten. Ein besonderer Fokus der Untersuchung liegt dabei auf mobilen Akteur:innen, die bisher unterrepräsentiert bzw. sogar unsichtbar geblieben sind, wie alleinreisende Frauen verschiedenen Standes – die es laut Forschung eigentlich nicht hätte geben sollen.

Im Sinne des Konzepts der „multiplen Mobilitäten“ stehen neben statischen Kontaktzonen, wie Gasthäusern oder Häfen, die als Orte des Ankommens sowie Ein- und Umsteigens von Bedeutung sind, bisher unerforschte Begegnungen auf der Straße, aber vor allem in Postkutschen sowie Fluss- und Hochseeschiffen im Mittelpunkt. Diese Verkehrsmittel, die als mobile soziale Orte fungierten, sind bisher nur unzureichend erforscht, erlauben aber einen einzigartigen Blick auf soziale Aushandlungsprozesse zwischen heterogenen mobilen Akteur:innen – neben den genannten Differenzmarkern auch bezüglich Nah- und Fernreisenden. Während sich die Forschung zu mobilen Akteur:innen auf männliche, zumeist privilegierte Reisende konzentriert, erlaubt gerade die Untersuchung dieser mobilen Räume, bislang marginalisierte Akteur:innen und deren Agency sichtbar zu machen. So stehen hier Gruppenbildungsprozesse und Dynamiken sozialer Positionierungen im Fokus. Denn sowohl auf Schiffen als auch in öffentlichen Kutschen galten besondere (Verhaltens-)Regeln, die den meisten Reisenden fremd waren und die teilweise die akzeptierten Normen und Hierarchien der sesshaften Gesellschaft außer Kraft setzten, da hier bestimmte typische soziale Marker des feudalen Systems ihre Bedeutung verloren. So galten in Postkutschen oftmals Mehrheitsentscheidungen und Plätze wurden nach dem Zeitpunkt der Anmeldung vergeben. Aus einer raumkonzeptionellen Sicht stellt sich somit die Frage, welche Wirkmacht diese öffentlichen Verkehrsmittel als begrenzte mobile Räume bezüglich solcher Aushandlungsprozesse entfalteten. Ein zentrales Erkenntnisinteresse besteht demnach darin, unter dem konzeptionellen Rahmen von social sites in motion erstmals den Charakter der genannten Fahrzeuge als liminale Räume und ihr Potenzial als soziale Laboratorien, in denen neue Formen der Interaktion erprobt wurden, auszuloten. Dies wirft die Frage auf, inwieweit solche Erfahrungen im Transit auch Auswirkungen auf die sesshafte Gesellschaft als Ganzes hatten bzw. inwiefern diese als analytisches Vergrößerungsglas für die Untersuchung der Konstruktion und Rekonfiguration wirkmächtiger Differenzkategorien fungieren können.

Um der Komplexität der genannten Perspektiven gerecht zu werden, setzt das Projekt zum einen auf individuelle Tiefenbohrungen im Rahmen mikrohistorischer Fallstudien, die beispielsweise auf der qualitativen Analyse umfangreicher Selbstzeugnisse wie Reiseberichten und Briefen basieren. So können durch die Verfolgung konkreter Mobilitätspfade z.B. die Spezifika unterschiedlicher Räume und der Wandel von Handlungsspielräumen analysiert werden. Diese Mikrostudien sollen zum anderen durch quantitative Auswertungen ergänzt werden, um z.B. Erkenntnisse über bestimmte Akteur:innengruppen (z.B. Kauffrauen) zu gewinnen und Entwicklungen auf der Makroebene über längere Zeiträume nachzuzeichnen

Wanderinnen zwischen den Welten

Mobilitätserfahrungen deutschsprachiger Migrantinnen auf dem Weg nach Nordamerika im langen 18. Jahrhundert

Das im Projekt verortete und gerade ausgeschriebene Promotionsprojekt ergänzt und erweitert den geographischen Raum der Untersuchung, indem es die Mobilitätserfahrungen einer spezifischen bisher unzureichend erforschten historischen Gruppe in den Blick nimmt, nämlich deutschsprachige Migrantinnen auf dem Weg nach Nordamerika im langen 18. Jahrhundert. Dieser akteurszentrierte Ansatz mit einer klar umrissenen Gruppe bietet sich nicht nur für die spezifischen Anforderungen an eine Doktorarbeit an, sondern ist auch notwendig, um die sich verändernden geschlechtsspezifischen Erfahrungen, Handlungsspielräume, Restriktionen, Praktiken (z.B. Gehen) und Aneignung (mobiler) Räume während der verschiedenen Phasen ihres land- und seegestützten Transitprozesses zu verstehen.

Eindrücke aus einer für süddeutsche Migrant:innen - den sog. "Palatines" - errichteten Zeltstadt in London (The State of the Palatines, For Fifty Years past to this present Time (London 1709))

KI-gestützte Rekonstruktion marginalisierter mobiler Gruppen

Semi-automatische Informationsextraktion aus frühneuzeitlichen Fremdenlisten

Das seit Anfang 2025 durch die KI-Förderung der Universität Bremen geförderte Projekt verfolgt u.a. das Ziel, die Mobilitätserfahrungen bisher unzureichend erforschter Akteur:innen unterschiedlichen Standes, darunter z.B. (Schwarze) Dienstbotinnen, Jüdinnen und Kauffrauen, erstmals sichtbar zu machen. Während kaum Quellen zu vielen dieser historischen Akteur:innen überliefert sind, ermöglichen die zwischen 1762 und 1802 in der Zeitung Regensburgisches Diarium (RD) veröffentlichten bisher nicht systematisch erforschten „Fremdenlisten“ einzigartige Einblicke in die Mobilitätsmuster dieser „kleinen Leute“. Denn im Gegensatz zu zeitgenössischen Fremdenlisten anderer Städte, die einzig hochrangige Reisende vermerkten und sich auf die Angaben Name, Beruf/Stand, Herkunfts- und Zielort sowie Unterkunft beschränkten, wurde hier die ganze Breite der mobilen Bevölkerung (inkl. zeitgenössischer Zuschreibungen wie „M##r“, „Jüdin“ oder „Zwerg“) sowie zusätzlich zu den genannten Kategorien auch deren Fortbewegungsmodus (zu Fuß, per Postkutsche oder auch Schlitten etc.) und Reisegruppengröße abgebildet. Aufgrund der hier vermittelten dichten Informationen sind die Listen folglich über die Mobilitätsforschung hinaus auch von hoher Relevanz für andere Forschungsfelder. Auf Basis der gewährten KI-Förderung der Universität Bremen soll daher in Kooperation mit dem Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage als zentraler Bestandteil des Gesamtprojektes ein semi-automatisches Informationsextraktionsverfahren erprobt werden, auf dessen Grundlage zukünftig eine öffentlich nutzbare Datenbank generiert werden soll (Laufzeit 2025, Fördersumme 20.000 Euro).

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Aktuelles

Noch bis zum 1. April 2025 ist die Dissertationsstelle im Fokus-Projekt "Alle an Bord!" ausgeschrieben. Wir freuen uns über Bewerbungen! Zur Ausschreibung geht es hier.

 

Vom 7.-9. Juli 2025 findet der durch das Hanse-Wissenschaftskolleg geförderte internationale Workshop “Transient Communities and Spaces of Mobility: Theories, Methods, and Themes in Early Modern Mobilities History” in Kooperation mit Dr. Lucas Haasis (DSM) statt. Mehr Informationen zum Programm folgen demnächst.

Projektleiterin

Dr. Sarah Lentz

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In Kooperation mit

in Koordination mit Dr. Lucas Haasis