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Alt = offline? Bremer Professor: „20 Millionen ältere Menschen bleiben bei der Digitalisierung auf der Strecke“

Von den über 70-Jährigen haben 10 Millionen das Internet noch nie genutzt / Weitere 10 Millionen Nutzer haben noch nie online eingekauft / Forderung: Sofort 330.000 Tablet-PCs für Seniorentreffs und Seniorenheime bereitstellen

Twittern, chatten, E-Mails versenden, auf Webseiten surfen, online bestellen? Für junge und junggebliebene Menschen ist das selbstverständlich. Aber der ältere Teil der Bevölkerung ist mit solchen Online-Tätigkeiten wesentlich zurückhaltender – und erhält auch wenig Hilfe, wenn es darum geht, mit der Internet-Welt in Kontakt zu kommen. „20 Millionen ältere Menschen in Deutschland bleiben bei der Digitalisierung auf der Strecke“, sagt Informatik-Professor Herbert Kubicek vom Institut für Informationsmanagement Bremen (ifib), einem Forschungsinstitut an der Universität Bremen. Er fordert von der Politik massive Investitionen, um auch die Seniorinnen und Senioren bei der Digitalisierung „mitzunehmen“: „Vor dem Hintergrund unserer rapide alternden Gesellschaft wäre es mehr als fahrlässig, auf diesem Gebiet weiterhin so wenig wie bisher zu tun.“

Digitalisierung für Ältere kommt in Sondierungsgesprächen nicht vor

Kubicek forscht seit vielen Jahren zur Thematik der Internet-Nutzung von älteren Bevölkerungsschichten. Als das Internet in Deutschland startete, war er von Anfang dabei. Von 1996 bis 1998 war er Mitglied einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. In dieser Funktion hat der Informatiker das Problem der Digitalen Spaltung und die Förderung von öffentlichen Internetzugängen in einem Minderheitsvotum in den Abschlussbericht eingebracht.

Damals glaubte die Mehrheit der Kommission, das Problem würde sich mit der Zeit von alleine lösen. Tat es aber nicht – und deshalb ist Kubicek heute „frustriert und enttäuscht“: „Ich höre jetzt aus den aktuellen Sondierungsgesprächen zur Regierungsbildung, dass es in der entsprechenden Arbeitsgruppe beim Thema Digitalisierung um Breitband-Ausbau sowie die Digitalisierung von Schule und Arbeit geht. Aber die dritte Lebensphase nach Ausbildung und Arbeitsleben – der nachberufliche Lebensabschnitt – wird weder thematisiert noch gefördert. Viele Millionen ältere Menschen in unserem Land sind immer noch offline. Sie haben Berührungsängste zu diesen Technologien oder Sicherheitsbedenken. Aber anders als Kinder, für die Milliarden in ‚Digitalisierungsoffensiven‘ versprochen werden, erhalten sie kaum Unterstützung!“

Die Alterslücke hat sich nicht verringert

Zusammen mit seiner Kollegin Barbara Lippa aus von der Stiftung Digitale Chancen hat Herbert Kubicek eine aktuelle Studie mit neuen Forschungsergebnissen zur Alterslücke veröffentlicht. Finanziert wurde sie von der Stiftung Digitale Chancen in Kooperation mit Telefónica Deutschland. Das Ergebnis: Von den über 70-Jährigen haben mehr als 10 Millionen das Internet noch nie genutzt. Besorgniserregend: Der Abstand zwischen den Nutzungsquoten der Jungen und Alten – die sogenannte Alterslücke – hat sich seit 2001 in dieser Altersgruppe nicht verringert. „Bisherige Maßnahmen haben also offensichtlich keine nachhaltige Wirkung erzielt“, lautet das Fazit des Informatikers.

Doch es wird noch problematischer. In dem Projekt konnten rund 400 ältere Menschen über Seniorentreffs und Begegnungsstätten für acht Wochen einen Tablet PC ausleihen und ein Begleitangebot nutzen. Zu Beginn wurden sie nach ihren Erwartungen, am Ende der Ausleihzeit zur tatsächlichen Nutzung befragt. „Viele Seniorinnen und Senioren hatten erwartet, dass ihnen die Tablet-Nutzung Wege erspare und sie auch länger selbständig bleiben könnten“, sagt Barbara Lippa. „Aber weniger als 25 Prozent haben dann tatsächlich online eingekauft oder andere Transaktionen vorgenommen.“ Das Fazit: Gerade „schwierigere“ Anwendungen werden mit zunehmendem Alter seltener genutzt. „Aber genau die könnten bei abnehmender Mobilität das Leben der Älteren erleichtern und nützlich sein“, sagt Kubicek. „Aber was nutzt es, wenn wir auf dem Gebiet von Telemedizin und E-Health fantastische Software und Assistenzsysteme entwickeln – und kein älterer Mensch ist dann in der Lage, sie zu bedienen und zu nutzen?“

Ältere haben beim Internet ein „doppeltes Vertrauensproblem“

Seiner Meinung nach ist die Zahl der Älteren, die ohne gezielte Unterstützung die Chancen der Digitalisierung nicht nutzen können, weitaus größer als die genannten 10 Millionen „Offliner“. Sie umfasse auch mindestens 10 Millionen „gelegentliche Minimalnutzer“. In Interviews haben Kubicek und Lippa festgestellt, dass das Haupthindernis ein „doppeltes Vertrauensproblem“ ist. „Wo junge Leute unbekümmert nach dem Prinzip ‚Versuch und Irrtum‘ neue Techniken ausprobieren, haben ältere Menschen Zweifel, ob sie auftretende Probleme bewältigen können. Sie verzichten dann lieber auf die Nutzung“, so das Bremer Forscher-Duo.

Tablet-Abendkurse in der Volkshochschule würden da eher wenig helfen. „Die Ängste der Älteren betreffen die technische Bedienung – Registrierung, sichere Passwörter, die man nicht aufschreiben soll etc. Aber auch die Frage, was bei falscher oder fehlerhafter Lieferung von Waren zu tun ist.“ Die Wissenschaftler schlagen daher vor, dass auf diese Vorbehalte mit ganz anderen Konzepten und Angeboten reagiert werden sollte: „Keine Kurse mit gemischten Gruppen, sondern lieber Coaching in kleinen homogenen Gruppen“ lautet ihre Lösung. Neben praktischen Übungen, in denen es beispielsweise auch um den rechtlichen Verbraucherschutz geht, sollte es vor allem auch regelmäßige Sprechstundenangebote geben, wo man auch nach einem Training noch Hilfe bekommen könne. In ihrer Studie, die mittlerweile auch als Buch erschienen ist (siehe unten), haben die Autoren zehn Grundsätze für die altersgerechte Förderung digitaler Kompetenzen aufgestellt.

Bundesregierung soll 50 Millionen Euro für Tablet-PCs bereitstellen

Kubicek und Lippa sind der Überzeugung, dass das mit den Telefónica-Tablets pilotartig erprobte Leihmodell in Kooperation mit Senioreneinrichtungen der Schlüssel zur Verringerung der Alterslücke sein kann. Die Stiftung Digitale Chancen hat daher einen Masterplan entworfen, der in der Publikation des Wissenschaftler-Teams ausführlich erläutert und begründet wird. Die Bundesregierung soll 30.000 Seniorentreffs und 3.000 Seniorenheime mit jeweils zehn Tablet PCs ausstatten. Diese sollen diese für drei Monate zusammen mit einem geeigneten Begleitangebot an ihre Besucher bzw. Bewohner ausleihen. So kann in drei Jahren die zehnfache Anzahl älterer Menschen ohne eigene Investitionen erste Erfahrungen sammeln und Selbstvertrauen gewinnen.

„Inklusive Training der Trainer schätzen wir die Kosten für eine solche bundesweite Aktion auf 50 Millionen Euro“, rechnet Kubicek vor. „Wenn Milliarden für die Digitalisierung der Schulen versprochen werden, dann sollte der Bundesregierung auch dieser Betrag für die zunehmende Zahl älterer Menschen Wert sein". Dies haben Umfragen zufolge nämlich das Gefühl, dass die Politik ihre Sorgen nicht erst nehme. Vielmehr werde in Kauf genommen, dass ihre Generation abgehängt werde. Der Bremer Informatiker: „Die aktuellen Sondierer hätten aktuell die Chance, diesen Ängsten entgegenzuwirken.“

 

Herbert Kubicek und Barbara Lippa: Nutzung und Nutzen des Internets im Alter. Empirische Befunde zur Alterslücke und Empfehlungen für eine responsive Digitalisierungspolitik. VISTAS Verlag Leipzig (19 €)

Link zum Buch: https://www.vistas.de/medienpaedagogik/619-nutzung-und-nutzen-des-internets-im-alter-9783891586358.html

Link zum Masterplan: https://www.digitale-chancen.de/content/downloads/index.cfm/key.1520/sbild.2/cookie.2

 

Fragen beantwortet:

Prof. Dr. Herbert Kubicek
Universität Bremen
Institut für Informationsmanagement Bremen (ifib)
Tel. 0421/218-56575
E-Mail: kubicekprotect me ?!informatik.uni-bremenprotect me ?!.de

 

Über das ifib: Das Institut für Informationsmanagement Bremen (ifib) ist ein wirtschaftlich eigenständiges An-Institut der Universität Bremen. Im Fokus der Arbeit stehen der Umgang mit Informationen und das IT-Management in der öffentlichen Verwaltung, in Schulen und Hochschulen sowie in Vereinen und Verbänden. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts verbinden Forschung und Beratung. Dabei stellen sie nicht die Technik, sondern die Anforderungen des jeweiligen Anwendungsfeldes in den Mittelpunkt. www.ifib.de