30 Jahre später sind die Karten und dazugehörige Materialien in der Forschungsstelle Osteuropa auf dem Campus der Universität Bremen angekommen. Sie werden von Archivarin Karina Garsztecka und Dr. Ulrike Huhn, wissenschaftliche Mitarbeiterin, als Zeugnisse des Widerstandes in Osteuropa gesammelt und wissenschaftlich aufbereitet. Thomas Westermann ist persönlich aus Schönebeck, Nähe Magdeburg, angereist, um seine „Zeitzeugen“ zu übergeben. Große Freude auf beiden Seiten. Karina Garsztecka: „Es ist ein Glücksfall, alle Ergebnisse eines abgeschlossenen Projektes zu bekommen.“ Thomas Westermann weiß seine Schenkung in guten Händen. „Es ist nach 30 Jahren ein würdiger Abschluss.“ Dr. Ulrike Huhn kündigt an, dass mit dem Material als Fundus Projekte für Geschichtsstudierende angeboten werden sollen.
„Lass mal die Finger davon“
In einem Lunchtalk mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Forschungsstelle Osteuropa erzählt Westermann unaufgeregt die Geschichte seines Projektes mit dem Titel „tRAUMgeBILDE“. Als 20-Jähriger wurde er nach Abitur und Armeezeit als kulturpolitischer Mitarbeiter im Magdeburger Kulturhaus „Ernst Thälmann“ angestellt und blieb vier Jahre dort. Es war ein „Betriebskulturhaus für zwei große Maschinenbaubetriebe“, erinnert er sich. Und er musste das Übliche machen: Tanzensembles oder Gruppen von Amateurmalern betreuen. Aus dem hässlichen Flur machte er die „Galerie im Flur“. Das Mailart-Projekt sollte die 11. Ausstellung werden. „Mit 23 Jahren habe ich mir nicht so viele Gedanken gemacht, zum Beispiel, dass der enge Raum die DDR symbolisieren könnte“, sagte er. Trotzdem habe er manchmal im Stillen gedacht: „Lass mal die Finger davon“. Die Postkarten wurden von Privatadressen aus als Einladungen verschickt. „Für Einladungen brauchte man keine Druckgenehmigung“, sagt er. Der Rücklauf war für die beiden Initiatoren ein voller Erfolg.
„Selbstzensur war selbstverständlich“
„Alles, was Anspielungen auf die Mauer waren, haben wir von uns aus schon mal aussortiert“, berichtet er. „Selbstzensur war damals selbstverständlich.“ Das Material haben die beiden dann bei der Leitung des Kulturhauses in zwei dicken Aktenordnern eingereicht. Es passierte lange nichts. Schließlich kam die Absage, die Ausstellung werde nicht stattfinden. Kuriosum am Rande: Noch während der DDR-Zeit gelang es Westermann, seine „tRAUMgeBILDe“ in zwei anderen Galerien in Magdeburg zu präsentieren. Er arbeitete später als Siebdrucker und hat seit 20 Jahren eine eigene Werbeagentur. Als Westermann nach der Wende Akteneinsicht begehrte, staunte er nicht schlecht, was die Stasi da detailliert aufgearbeitet hatte. „Angriff auf die Kultur-und Kunstpolitik der DDR“ und dass es „kein kulturpolitischer Beitrag zur Bereicherung des Kulturlebens in Magdeburg nach dem XI. Parteitag der SED“ sei. Die Mehrheit der beteiligten Künstler stünden ästhetisch nicht auf dem Boden des sozialistischen Realismus. Schließlich mündet der Bericht in die Schlussfolgerung: „Einschlägige Ordnungsstrafverfahren durchzuführen und aufgrund der Bedeutung höchstmögliche Sanktionen zu verhängen.“
Kunst als große Kraft
„Mir ist nichts passiert“, sagt der Gast fast amüsiert. Kunst studieren durfte er zwar nicht, wisse aber nicht, ob es mit dem Projekt zusammenhing. Westermann beurteilt die Stasi aus heutiger Sicht eher milde. Ob die Kunst damals etwas bewirkt habe? wollen die Gesprächspartner von ihm wissen. „Ob sie konkret etwas bewirkt hat, weiß ich nicht, sie wurde aber als große Kraft wahrgenommen.“