von Ian Watson
Ausgerechnet am Katerabend der „Brexit“-Entscheidung lässt das Parlement of Foules ein Schiff namens „Britannia“ untergehen – und schon vor dem Auftakt, während das Publikum das Auditorium betritt und Plätze sucht, hängt der Union Jack schräg über dem Klavier herunter in den Dreck. Zum 400. Gedenken des Todes von William Shakespeare – und mit der Losung: „Shakespeare’s not dead“ – bot die Truppe zum zweiten Mal ein Stück des großen Barden im Schnürschuhtheater an.
Bereits zum Auftakt leistet sich Regisseur Michael Claridge seinen großartigsten Einfall: Kaum sitzt das Publikum, wird der Bühnenraum nach und nach mit adrett gekleideten Menschen aus den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts gefüllt; es entsteht ein Tableau aus den Roaring Twenties des Großen Gatsby. Langsam wird klar, dass diese Personen alle auf einem Kreuzfahrtschiff sind. Der Kapitän begrüßt die Zuhörer, heißt sie willkommen an Bord, und eine Stewardess preist die Freuden der kommenden Reise. Ein Lied wird angestimmt, eine Frau spielt Klavier. Das Neustädter Publikum wirkt leicht irritiert: Oh mein Gott – Mitmachtheater? Plötzlich gehen die Lichter aus und eine unglaubliche Explosion erschüttert das Theater. Noch eingelullt von der vergnüglichen Szene, wird das Publikum abrupt mit dem Elend der schiffbrüchigen Viola konfrontiert. Durch einen brillanten innovativen Zug hat Claridge die berühmte erste Szene von Twelfth Night („If music be the food of love, play on“) mit der zweiten getauscht, in der sich Viola und der Schiffskapitän als vermeintlich einzige Überlebende des Schiffbruchs an der Küste von Illyria wiederfinden.
In den letzten Jahren hat sich die Professionalität der Foules – trotz des zwangsläufigen Wechsels im studentischen Personal – so enorm gesteigert, dass man glatt vergisst, dass man nicht in einem städtischen oder kommerziellen Theater sitzt. Dieses gilt nicht nur für das schauspielerische Niveau, sondern auch für die ganze Aufführung. „Wie schaffen die das denn?“, hört man aus dem Publikum. Und auch dem Rezensenten bleibt es immer noch ein Rätsel, wie problemlos es den Agierenden gelingt, immer wieder in anderem Gewand und in anderer Gestalt zu erscheinen – denn wieder einmal müssen die Beteiligten mehrere Rollen spielen, die Frauen in Männerrollen schlüpfen (erneut diese wohltuende ironische Verkehrung des Shakespeareschen Bühnenalltags).
Alle – auch diejenigen mit weniger Text und Bedeutung – hätten eine namentliche Erwähnung verdient, was jedoch den Rahmen jeder Rezension aber sprengen würde. Im Folgenden also eine Auswahl.
Im Stück dreht sich alles um Viola, die von Alex Kind äußerst souverän in dreierlei Gestalt gespielt wird - sowohl als Frau (Liebe zu Orsino) wie auch als Mann (erotische Anmache der Gräfin Olivia) und als Zwilling (Verwechslung mit Bruder Sebastian).
Die Rolle der Viola gehört zu den kompliziertesten der Shakespeareschen Komödien, denn sie umfasst nicht nur Trauer und Liebeskummer, sondern auch Wortwitz (als Pendant zum Hofnarr) und Klamauk. Hinzu kommt die Gender-Frage: “Was soll draus werden? Weil ich Mann bin, muss / Ich an der Liebe meines Herrn verzweifeln. / Und weil ich Weib bin: lieber Himmel, ach! / Wie fruchtlos wird Olivia seufzen müssen! / O Zeit! du selbst entwirre dies, nicht ich.“ (Act II, Sc. 2) Kind gelingt es, nicht nur mit dem burschikosen „Mann“ Cesario einen glänzenden Coup zu landen, sondern beim Dénouement durch das Herunterlassen ihres Haares plötzlich die feminine Heldin zu verkörpern.
Auf der Komödiantenseite erweist sich der irische Austauschstudent Ciarán Kendrick als hochwillkommene Ergänzung der Gruppe, der mit seinem Wortwitz stets für Lacher sorgt. Er verkörpert vorzüglich den schwachen, jedoch liebenswerten Intriganten Sir Toby Belch (nomen est omen) und vollbringt mit großem Elan eine der schwierigsten schauspielerischen Leistungen – einen Betrunkenen zu mimen. Neben ihm kann Oliver Kück als Belchs Sidekick Sir Andrew Aguecheek besonders gefallen. In seinem rot-weiß gestreiften Blazer torkelt er auf grandiose Weise mit steifem Strohhut wie ein Partygast von Gatsby herum, zwischen aufgeblasenem Pfau und zurückweichendem Feigling im großartig (mit Regenschirmen!) choreographierten Duell.
Der einzige, der im Chaos der Irrungen und Verwirrungen die Fäden in der Hand zu haben scheint, ist der Hofnarr Feste, hervorragend von Maic Wrehde verkörpert. Er ist nicht nur während des ganzen Stücks im Zentrum des Geschehens, sondern auch als Musikant – ob mit oder ohne Gitarre – exzellent.
Ja: „Wenn Musik die Nahrung der Liebe ist, so spielt fort; gebt mir volles Maß.“ Von Anfang an spielt die Musik eine zentrale Rolle in Shakespeares Komödie: sie enthält vier der bekanntesten und populärsten Liedertexte des Dramatikers und Dichters. Gleich am Anfang erklärt Viola, die sich als Mann verkleiden will: „Ich will mich in die Dienste dieses Herzogs begeben; […] ich kann singen, ich spiele verschiedene Instrumente, und bin also nicht ungeschickt, ihm die Zeit zu verkürzen.“ So definiert die Musik gleich zu Beginn den Herzog Orsino als guten Herrscher – er ist ein Renaissance-Mensch, ein Kunstmäzen. Auch hier zeichnen sich die Foules wieder einmal als gute Sänger und Tänzer aus.
Eine schöne Erneuerung bei der Gruppe ist die „Question & Answer Session“ nach dem Stück, bei dem die Zuhörer – und die überwiegende Mehrheit ist sitzen geblieben – die Gelegenheit haben, den Schauspieler/inne/n Fragen über die Aufführung, die Proben und ihren individuellen Einsatz zu stellen. Bewundernswert, wie die jungen Mimen, die sich nach dieser Leistung eigentlich den wohlverdienten Sekt hätten gönnen können, geduldig, diszipliniert und professionell in dieser Pressekonferenzsituation agieren. Chapeau.
Ein letztes Lob geht an das „Production Team“, das nicht nur die anspruchsvollen Kostüme, die komplexe Beleuchtung und Toneinspielung, die multimediale PR und die Choreographie meistern musste, sondern auch, wie immer, das hervorragende kostenlose Programmheft sowie das großartige „Schools Pack“ zusammengestellt hat, mit dem Lehrer/innen und Schüler(/innen sich mit Übungen und Infos auf den Theaterbesuch vorbereiten können.
Der irische Lyriker Ian Watson war bis 2011 Hochschuldozent für anglistische Literaturwissenschaft und literarisches Schreiben im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften.